Als Wien noch nicht Wien war

Autorin: Christine Ranseder

Dass die Römer im Wiener Raum eine prominente Rolle spielten, ist bekannt. Doch wer durchzog vor ihnen die abwechslungsreiche Landschaft an der Donau? Wo ließen sich in prähistorischer Zeit  Menschen nieder und wo begruben sie ihre Toten? Welche Gegenstände ihres harten Alltags haben sich im Boden erhalten?
Begleiten Sie mich in einer neuen Blogserie durch die Urgeschichte Wiens – von der ersten Besiedlung in der Jungsteinzeit bis zu der Begegnung der Kelten mit den Römern in der Jüngeren Eisenzeit. Bevor es jedoch zu den wichtigsten Fundstellen geht, lassen Sie mich im ersten Blog hinterfragen, was wir über diesen langen Zeitraum von ca. 5600/5500 bis 15 v. Chr. überhaupt in Erfahrung bringen können.

Die Urgeschichte zeichnet sich durch das Fehlen von Schriftquellen aus. Unser Wissen über diese Zeit ist der Archäologie und ihren Nachbarwissenschaften Anthropologie, Archäobotanik und Archäozoologie zu verdanken.
Auf dem heutigen Wiener Stadtgebiet ist die archäologische Quellenlage für die Urgeschichte leider weit weniger günstig als jene für die Römerzeit oder das Mittelalter.  Dies kann mehrere Gründe haben.

Die Besiedlung in der Urgeschichte war dünner als Archäologen annehmen
Wir wissen nicht, wie intensiv der Wiener Raum in der Urgeschichte genutzt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gebiet nur dünn besiedelt war. Vielleicht erschien der – heute als günstig angesehene – Naturraum für die Menschen dieser Zeit nicht sonderlich attraktiv. Möglicherweise waren einfach die zu den Siedlungen gehörenden „Territorien“,  in denen Landwirtschaft betrieben und vorhandene Ressourcen genutzt wurden, sehr groß.

Was aus urgeschichtlicher Zeit übrig blieb …
Urgeschichtliche Siedlungen hinterließen weder leicht zu identifizierende noch besonders spektakuläre Spuren ihrer einstigen Existenz. In unserem Raum bestanden urgeschichtliche Häuser aus Holz und Lehm und waren mit Stroh oder Reet gedeckt. Steinfundamente von Blockbauten konnten hier bisher nicht nachgewiesen werden. Von einer urgeschichtlichen Siedlung blieben in der Regel also nur Erdverfärbungen (Gruben, Pfostenlöcher, Gräbchen, Feuerstellen, Kulturschichten) und der Abfall ihrer Bewohner (Bruchstücke von Keramik, Tierknochen, Hüttenlehm, Steingeräte, manchmal auch Gegenstände aus Metall). Auch der Müll durchlief bereits im Boden eine Selektion, denn organisches Material (Holz, Leder, Textilien) wird nur unter Luftabschluss oder feuchten Lagerungsbedingungen konserviert. Viele Gegenstände haben sich daher erst gar nicht erhalten.

Reste einer Hütte aus der Älteren Eisenzeit (800/750 bis 500/400 v. Chr.), Grabung Wien 10, Oberlaa.

Aussagen über die Menschen selbst, ihr Sterbealter und ihre Gesundheit können anhand von Bestattungen getroffen werden. Es war üblich, den Toten Beigaben ins Grab zu legen. Das ist ein Glück für ArchäologInnen, denn jene Gegenstände, die im Boden überdauerten, sind zumeist vollständig erhalten. Dazu zählen Gefäße, Schmuck, Waffen, manchmal auch Werkzeug und Speisereste. An den Beigaben lässt sich nicht nur die Kulturzugehörigkeit der Verstorbenen ablesen sondern oft auch ihr sozialer Status, gelegentlich sogar ihr Beruf (z. B. Schmiede).

Die Erhaltungsbedingungen in einer wachsenden Stadt
Eine rege Bautätigkeit bringt vieles zu Tage, zerstört dieses aber auch. Wien durchlief im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Wachstumsphasen. Nicht nur die damit einhergehende Verbauung sondern auch die Ausbeutung vorhandener Rohstoffe (Schottergruben und Ziegeleien) legten Spuren der Menschen vergangener Zeiten frei, um sie für immer verschwinden zu lassen.

Es bedarf einiger Übung, urgeschichtliche Siedlungen oder Gräber anhand von Erdverfärbungen (den  Befunden) zu identifizieren. Sie zu dokumentieren und die Funde sachgerecht zu bergen, erfordert beträchtliches Fachwissen. Die Archäologie ist jedoch eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Grabungs- und Dokumentationsmethoden sowie Regeln für den Umgang mit Funden mussten erst entwickelt werden. Das Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit von Bodendenkmalen entstand – langsam –  in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Denkmalschutzgesetz wurde jedoch erst am 25. September 1923 erlassen. Heute sind die im Zuge von Bauvorhaben zu erfolgenden Maßnahmen bezüglich des archäologischen Kulturguts sowie der Umgang mit diesem klar geregelt.

Überblick über die Ausgrabung am Rennweg 16.

Der Forschungsstand
Der Forschungsstand zur Urgeschichte auf Wiener Stadtgebiet ist bescheiden. Interesse und Sammelleidenschaft galt anfänglich in erster Linie den Hinterlassenschaften der Römer. Mitarbeiter offizieller Stellen teilten sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg das Feld mit Heimatforschern/Privatsammlern. Fundbergungen und Ausgrabungen wurden manchmal nur lückenhaft dokumentiert, dem Fund oft mehr Beachtung geschenkt als dem Befund. Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgte nur in den wenigsten Fällen.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besserte sich die unbefriedigende Lage der Erforschung der Urgeschichte im Wiener Raum. Es gelang, nicht zuletzt durch die Ausgrabungen der Stadtarchäologie Wien und Bauvorhaben in sogenannten Hoffnungsgebieten, nun auch häufiger Befunde und Funde prähistorischer Zeitstellung zu untersuchen und wissenschaftlich zu dokumentieren.

Um sich ein umfassenderes Bild von der Anwesenheit der Menschen in der Urgeschichte zu machen, müssen jedoch auch die Altfunde herangezogen werden. Sie stellen ForscherInnen vor besondere Herausforderungen. Hinweise auf Fundstellen und Funde sind der Literatur der letzten 150 Jahre zu entnehmen, doch die Überprüfung der topografischen Angaben und eine (Neu)Bestimmung der Fundstücke sind nicht immer möglich. Die flächendeckende Verbauung veränderte das Stadtbild Wiens tiefgreifend, sodass heute Fundstellen oft nicht mehr exakt zu lokalisieren sind. Die aus Ankäufen, Aufsammlungen, Fundbergungen und Ausgrabungen stammenden Bestände verteilen sich auf zahlreiche Sammlungen von Museen und Institutionen in Wien und Niederösterreich. In der Vergangenheit erfolgte Fundtausche zwischen Museen und unter Sammlern erfordern heute zuweilen detektivische Kleinarbeit, um den Verbleib eines Fundes zu klären. Vieles ist im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen, so zum Beispiel durch den Bombentreffer auf das damalige Gebäude des „Historischen Museums der Stadt Wien“. Die Stadtarchäologie Wien ist bestrebt, sämtliche Fundstellen auf Wiener Stadtgebiet zu erfassen und zu kartieren. Die Ergebnisse fließen in den Kulturgüterkataster ein und können jederzeit im Internet unter Wien Kulturgut abgerufen werden.