Flaschen mit reaktionsschnellem Inhalt

Autorin: Ingeborg Gaisbauer

Manch eine unschuldigst getroffene Interpretation hat eine selbstmörderische Konnotation: Als vor einigen Jahren bei einer Ausgrabung im Einzugsbereich des Wiener Neustädter Kanals Fragmente von zwei großen Flaschen gefunden wurden, waren die Assoziationen auf meiner Seite unschuldig genug: Vorratsbehälter für Essig, Öl oder ähnliches – so dachte ich damals. Körperverletzend-ätzend weit gefehlt!

Aber der Reihe nach. Die Bruchstücke der steinzeugartigen Flaschen wurden gereinigt und beschriftet und dann … ruhten sie erst einmal. „Zu viele neue Grabungen“ ist die schlechte Ausrede für solch schmähliche Vernachlässigung. Eine bedauerliche Panne schon deswegen, weil zumindest ein Detail neben der Größe der Flaschen sofort auffiel. Diese Flaschen haben einen keramischen Drehverschluss, ein an sich ungewöhnliches Detail, aber vorerst nicht mehr als ein Kuriosum.

Ein keramischer Drehverschluss an einer der Wiener Flaschen.(Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Nun bot sich jetzt glücklicherweise die Gelegenheit, sich mit diesen Objekten auseinanderzusetzen, fortschreitende Restaurierung (Euphemismus für: Wir sind noch nicht fertig!) inbegriffen. Eine erste Parallelensuche führte mich zu einem Auktionskatalog. Das Dorotheum bot vor nicht langer Zeit „Vier große Vorratsflaschen, Böhmen um 1900“ an. Der Stempel auf diesen Flaschen wies zu den Montan- und Industrialwerken eines Freiherren von Starck. Damit drängte sich natürlich die Frage nach der inhaltlich/funktionalen Designation dieser Stücke erst recht auf.
Von Starck war offensichtlich ein umtriebiger Mann mit viel Geld und vielseitigen Interessen, es galt also nur noch festzustellen, welches dieser Interessensgebiete sich in Flaschen abfüllen ließ. Und nun kommen wir zu meiner tragisch/komischen Fehldiagnose. Von Starck füllte vor allem „oleum“ in eigenen Gebinden ab, und nein, damit ist nicht Öl gemeint. Vielmehr handelte es sich dabei um (rauchende) Schwefelsäure. Von einer Anwendung in der Küche wird also dringend abgeraten, außer es ist Ihr erklärtes Ziel Unmengen an Rost verschwinden zu lassen. Ganz gewiss eignet sich dieses Produkt auch für kreative (zwischen)menschliche Scheußlichkeiten, bei diesen unerquicklichen Spielarten der Zweckentfremdung wollen wir allerdings nicht verweilen. Wichtiger ist, dass Schwefelsäure in verschiedenste weitere Produktionsprozesse vom Düngemittel bis zur Sprengstoffherstellung involviert wurde – die Frage nach dem letztendlichen Nutzen der Starckschen Schwefelsäure Flaschen ist also obsolet.

Die beiden Schwefelsäureflaschen – noch in Bruchstücken – aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Wie sieht es nun mit „unseren“ Flaschen aus? Findet sich da der Starcksche Firmenstempel? Damit können wir nicht dienen, dafür zeigt sich hier eine andere Rückversicherung bezüglich der Befüllung. Beide Flaschen tragen einen Stempel, der recht eindeutig als „Schwefelsäure“ zu lesen ist.

Abb.: Die Stempel auf den beiden Flaschen. […] ELSAUERE und mit zwei Schreibfehlern SCHWEFELSUAER. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)
Mehreres lässt sich nun anmerken:

Zum Ersten: Starck ist nicht ganz aus dem Rennen, denn bevor er eigene Flaschen produzierte, die offenbar seinen Stempel trugen, kaufte er ebensolche an. Ob es sich dabei dann um anonymere Kaliber handelte, können wir zumindest derzeit nicht sagen. Ob unsere Flaschen aus dem späten 19. oder bereits aus dem beginnenden 20. Jahrhundert stammen, ist auch noch unsicher.

Zum Zweiten: Das Format, die Form und vor allem die Verschlusstechnik mit einem keramischen Drehverschluss – so säurebeständig wie die Flasche selbst – scheint recht typisch zu sein. Zusätzlich verklebte man das Ganze dann auch noch mit Harz, nur für den Fall, dass Sie sich berechtigte Sorgen bezüglich der Abdichtung machen sollten!

Zum Dritten: Warum diese Flaschen dort ausgegraben wurden, wo wir sie fanden, wird sich erst nach intensiverer Beschäftigung mit den Befunden der Grabung feststellen lassen (Euphemismus für: Wir fangen gerade erst an, aber wir geben uns Mühe!)

Zum Vierten: Die Stempel, die die Befüllung angeben, wurden aus Einzellettern zusammengesetzt. Das lässt sich daran erkennen, dass bei einer der beiden Flaschen das „A“ und das „U“ in „SCHWEFELSAUERE“ verdreht wurde. Vor kleinen „Verschreibern“ war man eben nie sicher.

Zu guter Letzt: Meine harmlosen Essig-/Öl-Flaschen wurden also zu Gefahrengutbehältnissen aufgewertet. Unkulinarisch, gruselig, aber zweifelsohne spannend. Wir werden sie über weitere Ergebnisse auf dem Laufenden halten!