Vindobona für „Dummies“

Autorin: Ingeborg Gaisbauer

Gestatten Sie, dass ich gleich zu Beginn einige Ihrer Illusionen zerstöre? Ich bin im wahrsten Sinn des Wortes eine „leidenschaftliche“ Mittelalter/Neuzeitarchäologin und spezialisiert auf keramisches Fundmaterial. Fragen Sie bezüglich des „Leiden-schaffens“ ruhig meine Kollegenschaft, die können Ihnen davon mehr als nur eine Episode erzählen. Wie in dreimal Plutos Namen habe ich mich also in einen Blogbeitrag über Wiens römische Vergangenheit verirrt? Warum schreibt hier nicht ein „Römerarchäologe“? Die Antworten sind vielfältig, aber vor allem war die Grundidee Ihnen – bevor die Spezialisten mit ganz speziellen Beiträgen loslegen – einen lockeren Überblick über die „römischen Verhältnisse“ zu bringen. Wo ungefähr spielte sich was wann und wie ab und was blieb davon … aus der rückblickenden Sicht des akademischen „Außenseiters“ sozusagen. Sie wissen, was ich meine: die „simplified version“ – bevor Sie sich anschnallen müssen, um angesichts der Fülle an Informationen zu römischen Münzen, Metallfunden und exklusiver Keramik, militärisch-taktischen Spitzfindigkeiten widergespiegelt in profundem Befestigungsbau und im Bedarfsfall lebensverkürzender Bewaffnung, lebensverbessernden bautechnischen Innovationen, Handel, religiösem Tohuwabohu usw. nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ich kann mir gut vorstellen, wie atemberaubend Sie diese Aussichten finden! Glauben sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass auch ich manchmal nach Luft schnappe.

Aber um wieder ganz ernst zu werden – es gibt noch einen anderen sehr guten Grund eine Mittelalterarchäologin an diese Aufgabe zu setzen. Abgesehen von der gelehrten Lockerheit sollten Sie nicht vergessen, bzw. werden Sie noch das eine oder andere Mal von mir daran erinnert werden, dass dem Mittelalter eine wesentliche Vermittlerrolle im Erhalten und Übersetzen römischer Strukturen in die Neuzeit zukommt. Oft genug ist der mittelalterliche Mensch aber auch der „Nicht-Erhalter“ oder gar Zerstörer und für das eine oder andere römische Geheimnis heißt es dann einfach: „lost in transformation“.

Die Zivilsiedlung

Drei wichtige große Bereiche [theoretisch vier, wenn man die (noch) nicht nachgewiesenen Landgüter – villae rusticae – als eigenen Bereich dazu nehmen will] kann man zur Gliederung der römischen Welt in Wien benutzen. Rein militärisch (zumindest im Sinne seiner Entstehung und über lange Zeit hinweg): das Legionslager; zivil, aber eng an das Lager angebunden: die Lagervorstadt (canabae legionis); zivil, räumlich abgesetzt und der eigentliche Verwaltungsmittelpunkt: die Zivilsiedlung. Fangen wir mit der Lokalisierung von Letzterer an: die Zivilsiedlung liegt wie eine zerquetschte Ellipse am Rennweg (etwa zwischen dem heutigen Botanischen Garten und der Landstraßer Hauptstraße), und beinhaltete so einiges, was für römisches Leben wichtig war. Angefangen von einem Bad und diversen Hinweisen auf Handwerk und Verköstigung bis zur sehr maßvollen Befestigungsanlage, die sich nicht mit jener des Legionslagers vergleichen kann, ist der Archäologie hier so einiges bekannt. Im heutigen Stadtbild hat sich davon nichts erhalten und man kann durch den 3. Bezirk spazieren, ohne dass sich einem die römische Vergangenheit auch nur in Ansätzen erschließt. Das liegt unter anderem auch daran, dass es für die ersten mittelalterlichen Siedler hier offenbar wenig Attraktives gab, und das Gebiet erst recht spät (1200 und danach) – ohne Nutzung und strukturellen Erhalt von römischer Substanz – erschlossen wurde. Nicht dass es an Ausgrabungen und Fundmaterial mangeln würde.
In der Zeit zwischen dem Ende des 1. und dem 3. Jh. hat sich eine Menge Abfall vom Topf bis zum Tierknochen auf den Parzellen der Zivilsiedlung angehäuft. Womit wir auch schon beim zeitlichen Rahmen wären: Ein Gründungsdatum haben wir natürlich nicht, aber wir wissen, dass sich die Existenz der Siedlung in etwa in besagtem Zeitraum annehmen lässt. Im 3. Jh. (vermutlich Mitte desselben) wird die Zivilsiedlung verlassen – ein Vorgang, dessen Spiegelung uns auch in der Lagervorstadt noch beschäftigen wird.

Die Lagervorstadt

Vor dem Legionslager, darum herum und vermutlich fast bis an die Grenzen des heutigen 1. Bezirks heran, erstreckte sich die Lagervorstadt. Frustrierend wenig ist hier bis jetzt erforscht. Einem gut dokumentierten Bereich – der Michaelerplatz als älteste Straßenkreuzung Wiens – stehen viele Fragen bezüglich Ausdehnung, Verbauungsdichte und Funktion gegenüber. Was wir sicher wissen ist, dass die Lagervorstadt als eine Art zivile Versorgungszone und sozialer Gürtel um das Legionslager gesehen werden kann. Hier gab es nicht nur die Möglichkeit Güter zu erwerben und sich zu unterhalten, hier war es auch, wo die Familien der Soldaten untergebracht waren.
Außerhalb der Lagervorstadt an den Ausfallsstraßen lagen dann die Gräberareale – nahe genug, um Erinnerungskultur zu pflegen, aber doch deutlich abgetrennt vom Lebensbereich, wie es sich gehörte.
Während die Lagervorstadt mit dem Lager entstand und sich auch parallel zu diesem entwickelte, haben wir es auch hier wieder mit einem Schrumpfen im 3. Jh. und einer Aufgabe ca. Ende 3./Anfang 4. Jh. zu tun. Wohin die Zivilisten alle gegangen sind, möchten Sie wissen? Sehen Sie, das frage ich mich auch manchmal.
Viele werden im 4. Jh. ins Legionslager übersiedelt sein, weshalb wir uns gleich einmal mit Vindobonas militärischem Mittelpunkt beschäftigen wollen.

Das Legionslager

Heute noch recht klar erkennbar, liegen die Reste des Legionslagers von Vindobona zwischen Donaukanal, Tiefem Graben, Naglergasse/Graben und Rotenturmstraße – womit auch schon die vier Seiten grob definiert wären – ein sicheres Zeichen für konservierendes mittelalterliches Interesse. Man nimmt an, dass zumindest Teile der Legionslagermauer zielsicher widergenutzt wurden. So oder so, ist die Geschichte des Lagers selbst zu verwinkelt, das Innenleben zu kompliziert, um hier und jetzt schon aufgerollt zu werden. Vorerst nur ganz grundlegendes: Erste Anzeichen eines primär aus Holz errichteten Vorläufers vom Ende des 1. Jahrhunderts fanden sich bislang immer wieder, die funktionale Ansprache einzelner Bauten war allerdings bislang nur bedingt möglich. Ende des 2. Jahrhunderts begann man dann ein Legionslager in Stein auszubauen – korrekter gesagt müsste es heißen: in Holz, Lehm, Ziegel und Stein. Tatsächlich steht nicht auf jedem Steinfundament auch eine solche Mauer und die Baracken der Legionäre waren ohnehin aus Holz, Lehm und Flechtwerkwänden gebaut und hatten bestenfalls steinerne Fundamente.
Tatsächlich ist es aber diese „steinerne“ Blütezeit des Lagers, über die wir am meisten wissen. Unzählige Ausgrabungen, Pläne und Rekonstruktionen bringen uns hier den militärischen Arbeits- und Wohnbereich näher. Ergraben sind das Kommandogebäude an der heutigen Tuchlauben, die Werkstätten am Hof, die Tribunenhäuser am Hohen Markt und ebendort auch die Therme (Hoher Markt/Sterngasse) und das Spital (Wipplingertstraße/Salvatorgasse). Zumindest das Kommandogebäude (principia), der Legatenpalast (praetorium), die Tribunenhäuser, das Werkstattgebäude (fabrica) und die Thermen dürften übrigens wirklich in voller Lebensgröße aus Stein gebaut gewesen sein.
Im 4. Jh. erlitt die klassische viereckige Form der Anlage einen empfindlichen Dämpfer, und es waren nicht die bösen Germanen, die über die nasse Grenze Donau herüber einfielen und zerstörerisch wirkten. Der Fluss selber war unbarmherzig. An sich war das Legionslager nicht nur militärisch, sondern auch Hochwasser-präventiv sehr schlau auf höherem Grund, der Stadtterrasse, angelegt worden. Fortgesetzte Unterspülungen der NW-Ecke führten dann allerdings zu einer Hangrutschung und dem Verlust dieser gesamten Ecke, mit Baracke, Mann und „mus“ – Verzeihung: „Maus“. Nach dieser Katastrophe adjustierte man sich offenbar neu und es kam – wohl auch aus anderen Gründen – zu einer Überarbeitung und Verstärkung der Befestigungsanlagen. Damit wären wir dann im Zeitraffer auch schon in der Spätantike angelangt. Wie schon erwähnt, wird neben der Zivilsiedlung auch die Lagervorstadt im 3. Jh. aufgegeben. Dass sich zumindest ab dem 4. Jh. nicht mehr ausschließlich Soldaten, sondern auch Zivilisten im Lager befinden, belegen verschiedenste Funde, bis hin zum Babyskelett. Wie die entsprechenden Umstrukturierungen aussahen, die aus dem reinen Männerbetrieb eines Legionslagers eine familientaugliche „spätantike Festungsstadt“ machten, erfahren Sie natürlich nur, wenn Sie unserem Blog treu bleiben – wo wäre da die Spannung, wenn ich Ihnen das alles jetzt schon vorsetzen würde.
Apropos Spannung: Ein sicheres Zeichen, für die Aufgabe der Lagervorstadt, war die „Totenstille“ vor dem Lager, soll heißen das Entstehen von Gräberarealen „bis vors Tor“ sozusagen. Die Lebenden waren fort, also durften sich die Toten breitmachen.
Das Ende der römischen Präsenz ist dann spätestens zu Beginn des 5. Jh. erreicht. Nach unserem jetzigen Wissen folgte die Aufgabe dieses „Grenzschutzpostens“ und ein geordneter Abzug – der römische Adler breitete die Flügel aus, flog nach Süden, und – was damals vielleicht den einen oder anderen überrascht hatte – kehrte niemals wieder .