Autorin: Christine Ranseder
Es mag sexistisch und politisch nicht korrekt sein: Der erste Blick auf ein Kachelfragment, das am St.-Bartholomäus-Platz (Wien 17) gefunden wurde, wandert auf den Busen der dargestellten Figur. Der – möglicherweise mit seinen Gedanken anderweitig weilende – Töpfer betonte diesen durch eine plastische Verzierung, die an in Rüschen gelegte Bänder erinnert. Oder soll es sich um das durch Einschnitte im Stoff des Oberteils gezogene Hemd handeln? Welches modische Detail dem Handwerker auch vorschwebte, das Bruchstück einer Blattkachel zeigt unzweifelhaft den Oberkörper einer Frau. Diese banale Feststellung ist im Zusammenhang mit der Datierung des Fragments nicht so abwegig. Tiefe rechteckige Ausschnitte und reich gefältelte Hemden waren in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts typisch für die Kleidung beider Geschlechter.
Die Betonung der Brustpartie erfolgte bei den eng anliegenden Oberteilen der Frauenkleider in der Regel mit Stickereien oder durch die Verwendung kostbarer gemusterter Stoffe. Die Wämser der Männer wiesen hingegen oft Schlitze auf, durch die das Hemd gezogen wurde. Eine extreme Variante davon ist die Kleidung der Landsknechte, die einige Zeit starken Einfluss auf die Männermode hatte. Die Rekonstruktion eines solchen, um 1530 datierten Outfits und seine Tragweise können Sie hier sehen.
Das voluminöse Hemd bestand aus Leinen. Die beachtliche Weite von Ärmeln, Vorder- und Rückenteil wurde am Hals in kleine Falten gelegt und zu einem hohen Stehkragen zusammengefasst. Dieser konnte mit einer Rüsche abschließen – wie z. B. an zwei Hemden auf dem nach 1537 entstandenem Gemälde „Judith mit dem Haupt des Holofernes und einer Dienerin“ von Lucas Cranach d. Ä. Ein weißes Hemd mit präzisen Falten bewies Sauberkeit, denn es ließ sich im Gegensatz zur Oberbekleidung waschen, und war ein Zeichen von Wohlstand.
Auch auf dem Kachelfragment vom St.-Bartholomäus-Platz ist die dekorative Verhüllung des Dekolletés mit dem Hemd gut zu sehen. Doch wer war die modisch gekleidete Dame? Das bleibt ein Geheimnis, denn es haben sich weder Attribute, die eine Identifizierung erlauben, noch ein Schriftzug erhalten. Fest steht, dass die grün glasierte Blattkachel von einem Ofen mit figürlichem Bildprogramm stammt, der einst die gute Stube eines Hauses in Hernals wärmte.