Begegnung in der Stadt – Archäologen treffen auf alte Hausmauern

Autorin: Heike Krause

Letztes Jahr glich die Rotenturmstraße während der Bauarbeiten eher einem Hindernisparcours. Nun ist aus ihr eine Begegnungszone geworden. Die Umgestaltungen gaben uns Archäologen die Möglichkeit, im Boden Mauern, Gruben, Straßenschotterungen und Abwasserkanäle zu entdecken, die von städtebaulichen Veränderungen über Jahrhunderte zeugen.

Links: Der Fleischmarkt auf dem Weg zur Begegnungszone. Bauarbeiten, 2019. (Foto: Stadtarchäologie Wien) / Rechts: Der Fleischmarkt als Begegnungszone, 1893. In der Bildmitte das Haus mit gotischem Erker vor der Demolierung. Aquarell von F. Gerasch. (© Wien Museum)

Eine Trasse für einen Rohrleitungstausch führte vom Fleischmarkt in Richtung Köllnerhofgasse. Hier kamen in der Trassenflucht zwei aneinander anstoßende, verschiedenartige Mauerreste zum Vorschein, die zu einem Haus mit gotischem Erker gehört haben, das 1894 abgebrochen wurde. Historische Stadtpläne zeigen, dass die Westmauer dieses Hauses weit in die heutige Gasse hineinreichte. Nach erfolgter Demolierung wurde sogleich ein Neubau errichtet, dessen zurückversetzte Fassade eine Erweiterung der zuvor nur ca. drei Meter schmalen Gasse zufolge hatte. Dieses Haus trägt heute die Adresse Fleischmarkt 12/Köllnerhofgasse 6/Grashofgasse 1.

Links: Ausheben des Rohrleitungsgrabens in der Köllnerhofgasse. Hier traten die Mauerreste des 1894 abgebrochenen Hauses zutage. (Foto: Stadtarchäologie Wien) / Rechts: Das alte Haus an der Ecke Köllnerhofgasse/Grashofgasse vor der Demolierung. Die Gassenenge ist deutlich wahrnehmbar. (© Wien Museum, Reproduktion: Manuel Carreon Lopez)

Das Aussehen des alten Hauses wurde vor dem Abbruch fotografisch festgehalten. Besonderes Aufsehen erregte damals nämlich der zum Fleischmarkt hin gelegene gotische Erker. In einem Brief an das Stadtbauamt bat noch im November 1893 ein als „treues Wienerkind“ unterzeichnender Anonymus, um die Erhaltung dieses „ehrwürdigen Denkzeichens“. Der Bauherr möge doch dazu bewegt werden, ihn für die Zukunft zu erhalten und in den Neubau zu integrieren. Da dieser Wunsch nicht in Erfüllung ging, schenkte der Bauherr Joseph Sucharipa die wohl einst farbig gefasste und durch die Bergung anscheinend leicht ramponierte Brüstung dem Historischen Museum der Stadt. Das Objekt ist noch heute Bestandteil der Sammlung des Wien Museums.

Die gotische Erkerbrüstung mit fünf Wappen. (© Wien Museum, Foto: Stiegler/Massard)
Der Erker über der Durchfahrt des Hauses am Fleischmarkt. Foto von J. Löwy. (© Wien Museum, Reproduktion: Manuel Carreon Lopez)

Was lässt sich über diesen reich geschmückten Erker in Erfahrung bringen? Die Brüstung war mit Vierpässen und Wappen geziert. Und letztere gaben ein Bekenntnis ab. Auf der Frontseite sind es von links nach rechts: der Bindenschild des Herzogtums Österreich, das Wappen des Königreichs Portugal, das Reichswappen mit gekröntem Doppeladler, das Wappen des Königreichs Ungarn und das steirische Pantherwappen. Diese weisen eindeutig auf Friedrich III. hin. 1440 wurde er zum römisch-deutschen König, 1452 zum Kaiser gekrönt und heiratete im selben Jahr die portugiesische Königstochter Eleonore. Nach dem Tod seines entfernten Verwandten Ladislaus Postumus, dem jungen Herzog von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, dessen Vormund er nach dem Tod Königs Albrecht II. war, wurde Friedrich 1457 auch Landesherr von Österreich. Schon früh, nämlich 1424 folgte er als Herzog der Steiermark, Kärnten und Krain nach. Das ungarische Wappen zeugt vom Anspruch Friedrichs auf die Königswürde nach dem Tod von Ladislaus, doch wurde 1458 Matthias Hunyadi gewählt, hierzulande besser bekannt unter dem Beinamen Corvinus. Friedrich war jedoch Gegenkandidat der ungarischen Opposition.

Die Brüstung mit den Wappen. Ganz links der mit einer Scharte geteilte Schild.
(© Wien Museum, Ausschnitt)

Die Entstehung des Erkers lässt sich anhand der angebrachten Wappen auf die Zeit zwischen 1457 und 1460 eingrenzen. Doch war es nicht Friedrich, der diese Brüstung mit Symbolen seines Herrschaftsanspruchs in Auftrag gab. Vielmehr war es wohl ein Loyalitätsbekenntnis eines Wiener Bürgers zum Kaiser und zwar in einer krisengeschüttelten Zeit, in der multilaterale Machtansprüche zu innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen führten. War es Überzeugung oder Opportunismus? Wir wissen es nicht. Und dieser Bürger hatte auch sein Wappen angebracht, demütig an der linken, schmalen Seite der Brüstung. Es ist ein einfacher, durch eine Scharte geteilter Schild. Um dieses Zeichen jemandem eindeutig zuschreiben zu können, wären weitere Recherchen nach erhaltenen Wappendarstellungen in Archiven nötig. Auch die rechte Schmalseite wies ein Wappen auf, das jedoch nicht mehr erhalten ist.

Eine andere Möglichkeit der Identifizierung besteht darin, den Besitzer anhand der Grundbücher auszuforschen. Dabei stößt man in der entsprechenden Zeit auf den Namen Hans Keusch. Durch Heirat kam das Haus 1447 an ihn. Nach seinem Tod 1460 wurde es von den Vormündern seiner Kinder Hans und Kathrei, um 1500 Pf. Wr. Pfennig an Laurenz Stadler verkauft. Der Wiener Bürger Keusch ist in Schriftquellen fassbar. Zunächst begegnen wir ihm in den Kammeramtsrechnungen der Stadt, in denen unter anderem die Pfänder für nicht gezahlte Steuern vermerkt wurden. 1451 setzte er dafür einen vergoldeten Frauengürtel, 1454 einen vergoldeten Becher mit Deckel ein. Man hat den Eindruck, hier jemanden vor sich zu haben, der aufgrund verschiedener Investitionen nicht immer liquid war. Im selben Jahr wurde er gemeinsam mit dem Ratsherrn Niklas Teschler beauftragt, die Anlage von Befestigungsgräben der Vorstadt vor dem Stubentor vom Frauenkloster St. Niklas stadteinwärts zu organisieren und zu überwachen. Er war einer der vier Unterhauptleute des Stubenviertels für den Verteidigungsfall unter Hauptmann und Ratsherr Wolfgang Holzer, der jahrelang ebenfalls am Fleischmarkt wohnte. 1458 erwarb Keusch die unweit seines Hauses „Unter den Hafnern“ (heute: Hafnersteig) gelegene Badestube und Schusterei um 350 Pf. Pfennig. Sie sollte ihm zusätzliche Einkünfte bringen. Außerdem besaß er auch ein Haus mit Garten vor dem Werdertor unter den Lederern. Um seine aufgelaufenen Schulden nach seinem Tod begleichen zu können, mussten die Erben einige der Immobilien veräußern.

Der aufgrund seiner nachweisbaren Kontakte wohl in der oberen Liga der Wiener Bürgerschaft spielende Keusch könnte also der Auftraggeber für die Ausgestaltung des Hauses mit dem wappengezierten Erker gewesen sein, der seine Kaisertreue öffentlich zur Schau stellte und sich damit innerhalb der gespaltenen Bürgerschaft im habsburgischen Bruderzwist eindeutig positionierte.

Einen Haken hat unsere Geschichte aber. Laut einer Bauinschrift soll das Haus 1667 von dem Arzt Dr.  Johann Zwölfer von Grund auf neu erbaut worden sein. Das auf den alten Fotos frei liegende Ziegelmauerwerk, die noch deutlich erkennbare Putzgliederung und die Fensterrahmen sprechen tatsächlich für eine umfassende Erneuerung in jener Zeit. Die Frage, ob dennoch ältere Substanz im Bereich der Einfahrt und des Erkers in situ blieb, kann nicht mehr beantwortet werden, denn das Haus existiert nicht mehr. Hat Zwölfer – nach dem das Gebäude lange Zeit benannt war – dieses gotische Kleinod als kaisertreues Zitat bewusst erhalten oder es gar von anderer Stelle transferieren und sekundär einbauen lassen? Das wird ein Geheimnis bleiben müssen, wenn die Zuordnung des seitlich angebrachten Wappens zu einer Person nicht gelingt.

Köllnerhofgasse. Mauer aus Bruchsteinen. (Foto: Stadtarchäologie Wien)
Köllnerhofgasse. Mauer aus Steinen und Ziegelfragmenten. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Die zwei entdeckten Mauern in der Köllnerhofgasse dürften letzte Überreste des Vorgängerbaus des Hauses Fleischmarkt 12 gewesen sein. Die eine von ihnen erweckt den Eindruck eines lagerhaften Bruchsteinmauerwerks. Doch die zwei bis drei erhaltenen Lagen reichen für eine sichere Beurteilung nicht aus. Eine derartige Mauerstruktur spräche vage für eine Errichtung im 13./14. Jahrhundert. Nördlich dieser Mauer setzt sich ein anderes, tiefer fundamentiertes Mauerwerk fort. Es weist größere Bruchsteine in einem Netz von kleineren Steinen und Ziegelbruchstücken auf, das mit hochqualitativem, stark kalkhaltigem Mörtel gut gebunden ist und das viel tiefer reicht als das Bruchsteinmauerwerk. Eine derartige Struktur ist ab dem 15. Jahrhundert und auch noch in der frühen Neuzeit üblich. Vergleichbares und ähnlich datierendes Mauerwerk wurde schon am Rabensteig 3 und bei Ausgrabungen im Alten Rathaus entdeckt. Es ist also gut möglich, dass dieses Stück Mauer zum Bestand des Hauses gehörte, an dem einst der prächtige Erker prangte.

Auch derartig klägliche Überreste wie diese können also dazu anregen, sich eines Hauses und seiner Bewohner zu erinnern, historische Überlieferung und materielle Hinterlassenschaften zu verknüpfen, Erstaunliches zu entdecken und somit ein Stück Stadtgeschichte zu erzählen