Gewickelt, nicht gegossen

Autorin: Christine Ranseder

Wer bei Stecknadeln als erstes an fleißige Schneider denkt, irrt. Gewiss, für diese Berufsgruppe waren neben den Nähnadeln auch Stecknadeln unentbehrlich. In Summe stellten jedoch Frauen aller Gesellschaftsschichten den größeren Kundenkreis – und nicht weil sie so gerne handarbeiteten.

Stecknadeln für die Lebenden …

Zur Mitgift Johannas von England (1335–1348) zählten 12.000 Nadeln für das Feststecken ihrer Schleier. Aus heutiger Sicht erscheint diese Menge exzessiv. Ich vermute allerdings, dass Nadeln zumindest zu Beginn als Wertgegenstand mit Sozialprestige angesehen wurden. Darauf deutet auch das Bildnis der Constanza Caetani, auf den goldenen Stecknadeln zusammen mit wertvollen Schmuckstücken abgebildet sind.
Frauen am anderen Ende des sozialen Spektrums besaßen natürlich wesentlich weniger – und weniger kostbare – Stecknadeln. Ganz ohne die spitzen Helfer kamen jedoch auch sie für viele Jahrhunderte nicht aus. Warum? Nun, Nadeln waren notwendig, um diversen Kopfbedeckungen Form und Halt zu verleihen. Wie diese – oft kunstvollen Gebilde, die Frauen tragen mussten – ausgesehen haben, verraten glücklicherweise Gemälde. Stecknadeln kamen zum Feststecken der Falten von Hauben und Kopftüchern sowie zum Befestigen von zarten Schleiern zum Einsatz. Die um 1442 am Dreikönigsaltar von Stephan Lochner abgebildeten Jungfrauen durften mit ihnen die aufwändig geschlungenen Zöpfe schmücken und fixieren.
So viel zu den sichtbar getragenen Stecknadeln. Doch auch im Verborgenen machten sie sich nützlich und hielten Teile der Bekleidung, wie Brusttücher, an Ort und Stelle.

… und die Toten

Kommt Archäologie ins Spiel wird es schnell morbid. Die meisten Stecknadeln, mit denen es ArchäologInnen zu tun haben, stammen aus Grabungen auf ehemaligen Friedhöfen. Und damit wären wir bei einer Berufsgruppe, die als Abnehmer von Stecknadeln nicht vergessen werden sollte: die Leichenbestatter. Im Zusammenhang mit dem Totenbrauchtum dienten Stecknadeln – nachdem sie als billige Massenware hergestellt werden konnten – zum Verschließen des Totenhemdes oder Leichentuchs.
Die hier gezeigten Funde kamen bei der Bergung von Gräbern des ehemaligen Friedhofs am St.-Bartholmäus-Platz (Wien 17) zu Tage. Zugegeben, sie sind auf den ersten Blick recht unscheinbar. Bei genauerem Hinsehen geben sie jedoch durchaus einiges preis. (Möglicherweise wird dies jedoch nur von Sammlern wie Stanley in Terry Pratchett´s Roman „Going Postal“ geschätzt.)

Stecknadeln aus Gräbern des ehemaligen Friedhofs am St.-Bartholomäus-Platz. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Aus Draht wird eine Stecknadel

Im Gegensatz zu heutigen Stecknadeln besaßen historische Exemplare vom 13. bis in das 19. Jahrhundert einen aus Draht gewickelten Kopf. Doch beginnen wir mit dem Ausgangsmaterial, dem Messingdraht.
Er wurde in Stücke, die so lang wie zwei Nadeln waren, geschnitten. Nachdem beide Enden zu Spitzen geschliffen worden waren, durchtrennte man den Draht in der Mitte. Von einer, aus einem anderen Drahtstück gedrehten Spirale, schnitt der Nadler nun zwei Schlingen ab und schlug diese auf den Schaft auf. Schon hatte die Nadel einen Kopf! Um ein kugeliges Köpfchen zu erhalten, wurde die Stecknadel in ein Gesenk gelegt und der gewundene Draht in die gewünschte Form gepresst. Eine spiralig umlaufende Naht blieb aber sichtbar.

Stecknadeln mit Köpfen aus Draht. Fundort: St.-Bartholomäus-Platz. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)
Stecknadeln mit Köpfen aus Draht, die in einem Gesenk rund gepresst wurden. Fundort: Aspern. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Damit die Nadel wertvoller aussah als sie eigentlich war, konnte sie etwa ab dem 16. Jahrhundert einen Überzug aus Zinn erhalten. Noch feiner wirkten versilberte Stecknadeln.

All dies fand anfänglich in den Werkstätten von Handwerkern statt. Die fortschreitende Industrialisierung setzte dem ein Ende. Die Einführung von Maschinen und rücksichtsloses Profitstreben hatte ein Zerlegen des Produktionsprozesses in einzelne Arbeitsgänge, die von verschiedenen Arbeitern erledigt wurden, zur Folge. Adam Smith vermerkte 1776 in seinem Werk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, dass für die Herstellung einer Stecknadel 18 Arbeitsschritte notwendig seien. Deshalb fand die unscheinbare Stecknadel als Beispiel für die Arbeitsteilung Eingang in die Wirtschaftslehre.