Autorin: Ingeborg Gaisbauer
Die Mauer des römischen Legionslagers zu betrachten, ist uns in Wien leider nicht vergönnt. Selbstverständlich weiß jeder Römer-faszinierte Wiener, dass sich die Umrisse des ehemaligen Lagers ganz einfach bei einem netten kleinen Frühlingsspaziergang abgehen lassen, aber es bleibt ein klares „hier war es einmal“-Spiel. Selbst dort, wo die Tuchlauben auf den Graben trifft, lassen sich die Ausmaße der porta decumana nur noch erahnen, wenn man weiß, wie man sich das ganze vorzustellen hat. Mittelschlechte Karten also, für die Sichtbarkeit der Befestigung im Stadtbild?
Da der Archäologe beim Graben in einer Stadt generell nicht forscht sondern nur „rettet“ und dokumentiert was gerade zerstört wird, hat unsereiner zwar vor kurzem zum ersten Mal seit gut 100 Jahren einen Blick auf die Steine der Legionslagermauer „in situ“ werfen können – aber: fabula est acta, wie der Römer sagt. Etwas wienerischer: Weg sind sie schon wieder! Generell gibt es nur verlagerte Steine als Trostpreis im Stadtbild und: Spolien. Wieder eingemauertes römisches Steinmaterial kommt vor, gibt sich aber nicht immer gleich zu erkennen, zumindest wenn keine entsprechende Inschrift darauf zu finden ist. Dummerweise hat man sich nämlich im mittelalterlichen Wien aus denselben Steinbrüchen bedient wie die alten Römer, als man wieder Gefallen an Steinmauerwerk gefunden und die Fertigkeit selbes zu Bauen vertieft hatte. Es gilt also, die Identifizierung über so unspektakuläre und darüber hinaus noch vergängliche Dinge wie Bearbeitungsspuren vorzunehmen. Umso größer der Verdruß und die Oberflächenerkennung unmöglich, wenn gewitzte mittelalterliche Steinmetze noch einmal „drübergearbeitet“ haben sollten. All diesen Widrigkeiten zum Trotz: es gibt Kandidaten! Oder anders gesagt: Sie haben tatsächlich die Chance im Rahmen Ihres Frühlingsspazierganges, einen römischen Quader zu kraulen! Falls Sie wirklich auf Tuchfühlung mit der römischen Defensivbaukunst gehen wollen, mein persönlicher Rat: Tun Sie es unauffällig, ihr Verhalten könnte von Passanten mißverstanden werden. In Wien hat jeder Verständnis dafür, wenn Sie einen wildfremden Hund, wenn er nur süß genug ist, mit Zärtlichkeiten bedenken, aber wenn Sie einen Stein streicheln … ich denke wir verstehen einander.
Aber nun heraus mit der Sprache, lassen Sie mich Ihnen das wo und wie enthüllen!
Tatsächlich ist es nicht die gängige Route entlang der verschwundenen Mauer in ihrer Ideallinie, die Sie gehen müssen. Tatsächlich müssen Sie sich der amorphen NW-Ecke des Lagers zuwenden, jenen Bereich also, der durch die berüchtigte Hangrutschung vermutlich im 3. Jahrhundert verstümmelt wurde. Hier waren im Bereich Maria am Gestade Adaptionen der Befestigung nach besagter Katastrophe nicht nur notwendig, sondern sind unter der Kirche auch recht und schlecht nachweisbar. Man befindet sich, wenn man die Salvatorgasse entlang schlendert, also tatsächlich auch „an der Mauer“ und nicht nur beim Shoppen im goldenen Quartier mit Blick auf Naglergasse und Graben. (Für Geldbörse und Kontostand des Durchschnittbürgers will mir die Salvatorgasse ohnehin harmloser erscheinen.)
Kommen wir zum optionalen haptischen Erlebnis: Zwischen Knie und Hüfthöhe (abhängig von Ihrer Größe) können Sie eingemauert in die Häuser Salvatorgasse 9–11/Stoß im Himmel 3 noch Quader der Verkleidung der Mauer finden. Über welche Umwege diese Steine es dort in den Mauerwerksverband geschafft haben, werden wir wohl nie wissen, doch sie sind da und nicht zu übersehen. Ebenfalls nicht zu übersehen ist die liebevolle Beschriftung, mit der die Stadt Wien auf dieses hübsche Relikt aus Vindobonas Spätphase hinweist: es gibt sie nämlich nicht. Hier ist der Spaziergänger, ob nun Einheimischer oder Tourist auf seine eigene Findigkeit und Belesenheit angewiesen.