Leben und Sterben im Kloster – Vergessene und wiedergefundene Gräber aus der Vorstadt Landstraße

Autorin: Heike Krause

Vor fast 25 Jahren wurden bei Bauarbeiten im Innenhof des Hauses Siegelgasse 1 im 3. Wiener Gemeindebezirk mehrere menschliche Bestattungen entdeckt. Ihre Überreste und die Dokumentation lagerten wohl verwahrt im Depot. Nun wurden sie einer interdisziplinären Untersuchung unterzogen. Alter und Bedeutung dieser bisher unerforschten Funde konnten jetzt eindeutig geklärt werden.

Ausgrabungen in der benachbarten Rasumofskygasse für die neue Unternehmenszentrale der Österreichischen Post am Rochus rückten das Areal rund um den Rochusmarkt auf der Landstraße in den Mittelpunkt der archäologisch-historischen Forschung. Denn hier trat erstmals ein Abschnitt eines Verteidigungsgrabens der mittelalterlichen Vorstadt zutage. Es stellten sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen: Wie groß war diese Vorstadt? Wann ist sie entstanden und wer lebte dort? Gibt es archäologische Spuren aus der näheren Umgebung? Dabei fielen mir die alten Fundberichte zur Siegelgasse, eine dazugehörige Schachtel mit Dias und Fotos, maßstabsgerechte Zeichnungen sowie die im Depot erhaltenen Skelettreste und Funde ins Auge. Und das alles machte neugierig: Lag hier das schriftlich bezeugte Zisterzienserinnenkloster? Und könnten die entdeckten menschlichen Überreste damit in Zusammenhang stehen?

St. Nikolaus mal Zwei

Herzog Leopold VI. von Babenberg gründete ein der Hl. Maria und später auch dem Hl. Nikolaus geweihtes Zisterzienserinnenkloster außerhalb der Stadt vor dem Stubentor. Papst Gregor IX. nahm das Kloster bereits 1228 und 1230 in den apostolischen Schutz und bestätigte seine Besitzungen und Rechte. Es wurde dem nahe gelegenen, schon 1133 geweihten, mit Mönchen aus dem französischen Morimond besetzten Zisterzienserkloster Heiligenkreuz im Wienerwald unterstellt. Dieser sich rasch ausbreitende Orden entstand aus der Gemeinschaft der Benediktiner. Das Leben der Geistlichen war auf Gebet, Lesen und Arbeit konzentriert. Sein Name leitet sich vom 1098 gegründeten Mutterkloster Cîteaux in Frankreich ab.

Neben dem Kloster der Zisterzienserinnen, für das sich der Name Niklaskloster einbürgerte, gab es in der Vorstadt vor dem Stubentor noch eine ältere Nikolauskapelle, die am heutigen Rochusmarkt gestanden sein dürfte und so wie das Kloster und die Vorstadtbefestigung nach 1529 dem Abbruch anheimfiel. Da der Hl. Nikolaus der Schutzheilige der Reisenden, Kaufleute, Händler und Fuhrleute ist und die Kapelle am wichtigen Handelsweg, der Landstraße, nach Osten stand, dürften die Reisenden hier wohl Station gemacht haben. Vor dem Stubentor und östlich des Wienflusses entstand an dieser wichtigen Fernstraße demnach spätestens zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine Vorstadtsiedlung mit einer Kapelle. Neben Häusern und Höfen gab es hier Ackerflächen, Obst- und Weingärten. Die Bewohnerinnen und Bewohner produzierten Lebensmittel für die Stadt. Schließlich ging der Name des Hl. Nikolaus auch auf die gesamte Vorstadt über.

Das Frauenkloster diente der Aufnahme und Versorgung adeliger und bürgerlicher Töchter aus Wien und Umgebung. Nichts erinnert heute mehr an diesen Gebäudekomplex. Sogar sein Standort geriet in Vergessenheit. Kein Wunder, denn das Stift wurde schon vor fast 500 Jahren, unmittelbar nach der ersten Belagerung durch die Osmanen im Jahr 1529 aufgegeben. Schriftliche und bildliche Quellen sind für die Beantwortung der Standortfrage von großem Nutzen. Die älteste, eher schematische Darstellung von Kloster und Nikolauskapelle findet sich auf dem sogenannten Albertinischen Plan aus dem 15. Jahrhundert. Daraus lässt sich schließen, dass das Kloster nördlich der Kapelle stand.

Albertinischer Plan aus dem 15. Jahrhundert. Am linken Bildrand sind die Kapelle (oben) und das Kloster (unten) zu sehen. Norden ist unten. (© Wien Museum Inv. Nr. 31.018, Ausschnitt)

Erst die Rundansicht des Niklas Meldeman, die das Geschehen während der Belagerung von 1529 zeigt, vermittelt einen plastischeren Eindruck vom Kloster und der Befestigung der Vorstadt, wobei die kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts errichtete Vorstadtbefestigung und die Gebäude größer und überhöhter dargestellt worden sein dürften. Wir sehen auch das aus mehreren Bauten bestehende Frauenkloster mit der dazugehörigen Kirche St. Nikolaus am östlichen Rand der Vorstadt.

Die befestigte Vorstadt vor dem Stubentor mit dem Nikolaikloster in der Meldeman-Rundansicht aus dem Jahr 1530 von Nordwesten aus gesehen. (© Wien Museum, Inv.-Nr. 48.068, Ausschnitt)

Was mit dem Klostergrund geschah

Nach Auflassung und Abbruch des Klosters wurde das Gelände aufgeteilt und zur Errichtung von Häusern übergeben. In den alten Grundbüchern der Stadt Wien wurde bei den betreffenden Parzellen der einstige Standort des Klosters noch Jahrhunderte später vermerkt. Ein großes Glück für die Lokalisierung! Auch die Grundstücke im Bereich der Siegelgasse 1 entstanden auf dem Areal. Ein im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrter Plan von 1765 verzeichnet an dieser Stelle, dass hier vor Jahren das Kloster St. Nikolai gestanden sei. Somit konnte seine Lage eingegrenzt werden. Zum Klosterkomplex gehörten nicht aber nur Kirche, Kreuzgang und Konventhaus, sondern auch Neben- und Wirtschaftsbauten. Die exakte Lokalisierung und die Dimensionen der einstigen Gebäude bleiben dennoch ungewiss.

Lage des Nikolaiklosters auf der Landstraße im rekonstruierten Grundriss der Stadt Wien und der Vorstädte im Jahr 1529. (Plan: Severin Hohensinner, 2019, Ausschnitt)

Ein Skelett kommt selten allein

Im Hof des Hauses Siegelgasse kamen in einer Tiefe von ca. 2,50 bis 3,20 m insgesamt Reste von 16 Bestattungen zutage, die eine Nordwest-Südost-Orientierung aufwiesen. Die gestreckte Armhaltung neben dem Körper, das weitgehende Fehlen von Beigaben sowie die Stratigraphie sprechen für eine Niederlegung im hohen Mittelalter. Diese Zeitstellung konnte durch die Radiokarbondatierung zweier Skelette bestätigt werden.

Übersichtsplan mit den dokumentierten Gräbern im Innenhof des Hauses Siegelgasse 1. (Plan: Stadtarchäologie Wien/ Martin Mosser)

Das Grab eines jungen Mannes enthielt eine schlichte, stark korrodierte Gürtelschnalle aus Eisen. An ihr war an einer kleinen Stelle ein Abdruck von textilem Gewebe erkennbar, der von einem einfachen Leinen stammen dürfte, in dem der Verstorbene bestattet worden war. Stoffreste selbst waren aber nicht erhalten.

Gürtelschnalle aus Eisen aus dem Grab eines jungen Mannes. (Foto/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien/Heike Krause,Gertrud Mittermüller)

Die C14-Datierung ergab für den Zeitpunkt seines Todes eine Spanne von 1184 bis 1275 n. Chr. Damit dürfte klar sein, dass der entdeckte Friedhof in die Frühzeit des Klosters gehörte. Durch verschiedene Baumaßnahmen im Zuge der Nachnutzung des Areals ab dem 16. Jahrhundert kam es zur Zerstörung vieler Gräber. Die Skelettreste wurden einfach wieder einplaniert, so dass auch eine Menge umgelagerter Knochen geborgen wurde. Die anthropologische Auswertung ergab daher eine höhere Individuenzahl, wobei ca. 45 Prozent der Verstorbenen jünger als 20 Jahre alt waren.

Nun würde man natürlich zunächst einmal denken, dass in einem Frauenkloster nur Nonnen bestattet wurden. Die anthropologische Untersuchung kam aber zu einem anderen Ergebnis. Es fanden sich auch Überreste von Säuglingen und Kleinkindern, von Jugendlichen, weiblichen, aber auch männlichen Erwachsenen sowie alten Menschen. Wie lässt sich das erklären? Zur Klostergemeinschaft der Zisterzienserinnen gehörten nicht nur Konventualinnen, junge Novizinnen und Oblatinnen , sondern auch Laienschwestern und Laienbrüder, sogenannte Konversen. Diese verrichteten die Arbeit für die klösterliche Eigenwirtschaft und -erzeugung und lebten in einem separaten Teil des Klosters. Außerdem wurden im Kloster Kranke gepflegt und Arme versorgt. Die Verstorbenen einer Krankenstube oder eines Armenhauses, die Konversen sowie klosterfremde, aber ortsansässige Personen dürften auf dem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet worden sein. Dieser ist wohl – wie auch bei anderen Klöstern üblich – bei der Kirche zu vermuten, von der aber bisher keine baulichen Relikte bekannt sind. In der Kirche selbst wurden dagegen höhergestellte Persönlichkeiten wie Stifter, die Äbtissinnen und Nonnen beigesetzt. Auch der Kreuzgang konnte für ihre Grablege genutzt werden. Diese Bereiche wurden aber noch nicht entdeckt. Vielleicht gelingt in Zukunft einmal der Nachweis derartiger baulicher Überreste dieses ersten Zisterzienserinnenklosters auf dem Gebiet des heutigen Österreich. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden im Fundort Wien 22, 2019 in ausführlicher Form publiziert.