Recycling im 15. Jahrhundert

Autorin: Renate Kohn (Österreichische Akademie der Wissenschaften)

Wie häufig ist es doch so, dass wir glauben, etwas völlig neu erfunden zu haben, und plötzlich draufkommen, dass es das schon seit Jahrhunderten gibt. Dass dies auch für das so modern anmutende Phänomen „Recycling“ gilt, soll hiermit bewiesen werden:
Bei den Ausgrabungen am Stephansplatz kamen mehrere Steinplatten zum Vorschein, die sich durch ihre aufwändigere Gestaltung vom umliegenden Material abheben. Sie zeigen eingravierte Buchstabenfolgen und Zeichnungen. Außerdem bilden sie so etwas wie ein Ensemble, relativ knapp unterhalb des Platzniveaus direkt anschließend an die Außenmauern der Barbarakapelle. Die meisten von ihnen sind sogar halb unter die Mauern geschoben. Während der Grabungsarbeiten wirkten sie wie ein Sockel für die Kapelle, sie bilden also die oberste Lage ihrer Fundamente. Doch wieso sind sie so schön verziert, wenn sie ohnehin nie jemand zu sehen bekommen sollte?

Der „Sockel“ der obersten Fundamentschicht. (Foto: Renate Kohn)

Diese Platten sind von unterschiedlichem Steinmaterial und auch von unterschiedlicher Länge. Schaut man sich jede von ihnen für sich an, so merkt man, dass ihr eingravierter Schmuck sehr fragmentarisch wirkt. Viele der Buchstaben sind offensichtlich oben oder unten abgeschnitten. Manche sind auch aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen. Somit ergeben sie enttäuschenderweise oft keinen Sinn mehr. Bei den Zeichnungen ist es ähnlich. Zumeist handelt es sich um Wappen, an einer Stelle ist auch ein Kreuz zu erkennen. Doch auch die Zeichnungen sind vielfach nicht komplett sichtbar, die Mauern und die vorspringenden Strebepfeiler verdecken so einiges.
Natürlich wurden die Steine nicht deshalb verziert, weil man die Grundmauern besonders hübsch aussehen lassen wollte. Im Gegenteil ist es viel eher so, dass man für die Grundmauern Steinmaterial genommen hat, das eben schon mit Wappen und Inschriften verziert war.

Ein Grabplattenfragment mit einer gotischen Kleinbuchstabenschrift, wie sie ab der Mitte des 14. und das ganze 15. Jahrhundert gebräuchlich war. Das erste Wort lässt sich zu margaretha ergänzen, das zweite zu uxor (=Ehefrau). Leider gibt das nicht genug an Information her, um die Dame klar identifizieren zu können. (Foto: Renate Kohn)

Wenn sie aber nicht für ihre aktuelle Funktion geschaffen wurden, was war nun aber ihre ursprüngliche Funktion?
Die heute noch sichtbaren Inschriftenfragmente nennen auffällig oft Eigennamen. Auch die eingeritzten Wappen beziehen sich auf bestimmte Personen. Man kann also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es Grabplatten waren, die hier eine neue Bestimmung gefunden haben. Grabplatten sind hochrechteckige Steine, deren Funktion es war, einen Grabschacht zu verschließen und an der sichtbaren Oberseite zu verkünden, wer unter ihnen begraben liegt.
Das heißt: Man hat diese Grabplatten irgendwann vom Grab weggenommen, hat sie so zugeschnitten, wie man sie eben brauchte, unter die Erde versenkt und als Steinmaterial für ein Fundament verwendet. Man hat sie also recycelt!
Ist das nicht unerhört blasphemisch?
Nun ja, eigentlich nicht. Denn: Erstens ist es nun einmal so, dass in Kirchen und auf Friedhöfen der Platz beschränkt ist. Bis heute gilt, dass wenn etwas Neues hinzugefügt wird, etwas Altes weichen muss. Zweitens ist Stein ein Material, das sowohl in der Gewinnung als auch im Transport ziemlich teuer ist, also einen Wert darstellt. Das heißt, man warf nicht mehr benötigte Steine nicht einfach weg, sondern lagerte sie solange, bis man sie wieder brauchen konnte. Und schließlich darf man drittens nicht vergessen, dass die Steinplatten zwar von ihrer heiligen Funktion als Grabmarkierung entfernt wurden, aber als Baumaterial für den Teil einer Kirche eine ebenso heilige neue Funktion erhielten.

Auch hier ist keine eindeutige Identifizierung möglich. Der Name Pangracz, der noch teilweise lesbar ist, war im Mittelalter nicht gar so selten. Immerhin lässt sich die Datierung etwas besser eingrenzen als beim anderen Beispiel: Inschriften im Kreis um ein Wappen gehören tendenziell noch in das 14. Jahrhundert, ebenso wie die gotische Großbuchstabenschrift. (Foto: Renate Kohn)

Die Barbarakapelle, für deren Fundamente die Grabplattenfragmente verwendet wurden, gehört baulich zum unausgebauten Nordturm. Für diesen wurde 1450 in einer feierlichen Zeremonie der Grundstein gelegt. Die berühmte Geschichte, dass der Wein dieses Jahrgangs besonders sauer war, aber auf Befehl König Friedrichs III. (Kaiser wurde er erst zwei Jahre später) nicht weggeschüttet, sondern für den Mörtel des Turmfundaments verwendet wurde, hängt übrigens mit dieser Grundsteinlegung zusammen. In unserem Zusammenhang viel wichtiger ist aber, dass wenige Jahre vorher das alte spätromanische Langhaus einem neuen hochgotischen weichen musste. Von dieser Modernisierung war auch praktisch die ganze Innenausstattung betroffen. Man entfernte auch alle Grabdenkmäler. Es ist anzunehmen, dass die sterblichen Überreste an anderer Stelle – etwa im neuen Karner unter der Maria Magdalenakapelle – würdig beigesetzt wurden, doch die Grabplatten wurden nun nicht mehr gebraucht. Man kann also davon ausgehen, dass sie bzw. Teile von ihnen bald nach 1450 im Fundament der Kapelle verbaut wurden.

Grabplatten haben übrigens den Vorteil, dass sie rechtwinkelig gearbeitet und flach sind. Daher hatten die Steinmetze für die Zweitverwendung bestens vorbereitetes Material zur Verfügung, das sie nur noch zuzuschneiden brauchten. Folglich eigneten sich Grabplatten für die Abdeckung horizontaler Flächen ganz besonders gut. Und tatsächlich, gerade am Nordturm finden die Mitarbeiter der Dombauhütte an unterschiedlichen Stellen immer wieder eingearbeitete Grabplattenfragmente, wir nennen sie Spolien (wortwörtlich übersetzt: Beutestücke – aus anderer ursprünglicher Verwendung gewonnen). Der Nordturm wurde eben genau zu der Zeit gebaut, als die Steindepots der damaligen Kirchenbauhütte (St. Stephan war noch kein Dom, daher nicht Dombauhütte) durch den Abbruch des alten Langhauses besonders gut gefüllt waren.

Natürlich ist das kein auf diesen Turm beschränkter Einzelfall. Man findet Spolien im ganzen Stephansdom. Beispielsweise Altarstufen sind diesbezüglich höchst verdächtig – erst kürzlich ist ein Neufund auf der Westempore geglückt. Man findet sie nicht nur in St. Stephan, in Wien oder in Österreich: Die Praxis, Spolien bei Bauarbeiten zu verwenden, wurde – und wird – grundsätzlich überall geübt, wo man mit Stein baut.

Die Grabplattenfragmente unter der Mauer der Barbarakapelle sind nun wieder zugedeckt. Besucht man diesen Winkel des Stephansplatzes, sieht es aus, als wären sie niemals gefunden worden. Doch wir wissen es besser …