Datum: 03.10.2016 | Autor: Christine Ranseder

Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche neue Werkstoffe erfunden, die als preisgünstiger Ersatz für kostspielige oder seltene Materialien die Herstellung von Massenware für die neue Konsumkultur ermöglichten. Dennoch verzichtete man nicht auf Bewährtes. An den Funden aus den untersuchten Gräbern des Matzleinsdorfer Friedhofs lässt sich dieses Nebeneinander von Tradition und Innovation nachvollziehen.

Verschlüsse von Kleidung – Altbewährtes und innovative Erfindungen

Haken und Ösen (Hafteln) aus Buntmetalldraht dienen seit dem Spätmittelalter als Verschlüsse. Ihr Aussehen blieb bis heute nahezu unverändert. Die im 18. Jahrhundert beliebten Beinknöpfe mit einer – heute ungewöhnlichen – fünffachen Lochung waren bis weit ins 19. Jahrhundert gebräuchlich.

Links: Haken und Öse aus gebogenem Draht. Mitte: Beinknopf mit fünf Löchern. Rechts: Beinknopf auf Textilrest, das Mittelloch wurde beim Annähen ignoriert.
Links: Haken und Öse aus gebogenem Draht. Mitte: Beinknopf mit fünf Löchern. Rechts: Beinknopf auf Textilrest, das Mittelloch wurde beim Annähen ignoriert.

Schlichte Hemd-/Wäscheknöpfe mit Viererlochung wurden bereits in Serien aus mehreren Größen hergestellt. Drei weiße Knöpfe aus zwei Gräbern des Matzleinsdorfer Friedhofs entsprechen in ihrem Aussehen den „Boutons Agate Blanc“, die in Frankreich ab der Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts von  J.-F. Bapterosses (1813–1885) mittels maschineller Pressen hergestellt wurden.
Die als „Porzellanknöpfe“ bezeichneten Produkte dieser Firma enthielten kein Kaolin, sondern bestanden aus pulverisiertem Feldspat, der mit Milch zu einer plastischen Masse geknetet, in Formen gepresst und anschließend im Ofen gebrannt (versintert) wurde. Bapterosses wurde zum Marktführer und vertrieb seine preisgünstige Massenware weltweit.

Drei „Boutons Agate Blanc”, die in den zeitgenössischen Quellen auch als „Porzellanknöpfe” bezeichnet werden.
Drei „Boutons Agate Blanc”, die in den zeitgenössischen Quellen auch als „Porzellanknöpfe” bezeichnet werden.
Ordentlich gekämmt zur letzten Ruhe

Aus zwei Gräbern stammen Kämme. Ein Frisierkamm fand vermutlich bei der Totentoilette zum Frisieren der/des Verstorbenen Verwendung und gelangte danach in den Sarg. Zwei Steckkämme gaben der Alltagsfrisur Halt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts fassten Frauen aller Gesellschaftsschichten das gescheitelte lange Haar am Hinterkopf zusammen, formten es zu einem Knoten und steckten es fest. (Eine kunstvolle Variante des tief sitzenden Chignons mit Steckkamm können Sie hier sehen.)
Das Besondere der drei Kämme ist ihr Material. Sie bestehen aus Hartgummi, für den der Amerikaner Nelson Goodyear 1851 ein Patent erhielt. In Europa begann die Produktion von Kämmen aus Gummi um 1854. In Wiener Zeitungen aus dieser Zeit sind zunächst Inserate für Produkte der französischen Firma Fauvelle-Dellebarre zu finden. Wenig später wurden auch in Deutschland und Österreich hergestellte Gummikämme beworben. Der neue Werkstoff bewährte sich als Ersatz für Horn und Schildpatt. Er ermöglichte es, Kämme als billigste Massenware für die unteren Bevölkerungsschichten herzustellen. Mehr zu den Kämmen können Sie hier lesen.

Steckkamm aus Hartgummi. Kämme konnten aus Platten geschnitten oder in Formen gepresst werden. Die unscharfe Profilierung der Verzierung und die glatte Rückseite dieses Exemplars belegen, dass der Kamm gepresst wurde.
Steckkamm aus Hartgummi. Kämme konnten aus Platten geschnitten oder in Formen gepresst werden. Die unscharfe Profilierung der Verzierung und die glatte Rückseite dieses Exemplars belegen, dass der Kamm gepresst wurde.
Steckkamm aus Hartgummi.
Steckkamm aus Hartgummi.
Achtbares Aussehen verpflichtend

Besonders für Frauen war der Druck groß, den gesellschaftlichen Vorstellungen einer achtbaren Erscheinung zu genügen. Accessoires halfen dabei und unterstrichen gleichzeitig den eigenen Status.
Ein kleines Schmuckstück aus einer Goldplattierung entspricht dem so genannten Schaumgold- Schmuck, der mithilfe von Pressen industriell hergestellt wurde. Auf diese Art entstanden auch für weniger betuchte Bürgerinnen leistbare Accessoires, deren voluminöses Aussehen nicht ihrem tatsächlichen Wert entsprach. Die „Doublé-Ware“ war die schlechteste Qualität des im 19. Jahrhundert erhältlichen Schmuckes.

Ohrring oder Brosche im Stil des zweiten Rokoko, 40er Jahre bis zweite Hälfte 19. Jahrhundert. Der Befestigungsmechanismus fehlt.
Ohrring oder Brosche im Stil des zweiten Rokoko, 40er Jahre bis zweite Hälfte 19. Jahrhundert. Der Befestigungsmechanismus fehlt.

Zwei Glasscheiben dürften ebenfalls von Schmuckstücken stammen. Medaillons und Broschen mit Haarsträhnen, aus Haar geklebten Motiven oder einem Porträt hinter Glas zählen zum Gedenkschmuck. Dieser erlebte im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Blütezeit. Als zweite Interpretationsmöglichkeit der beiden Glasscheiben bietet sich ihre Zugehörigkeit zu einer Devotionalie an.
Einzelne Glasperlen konnten aus der Verfüllung von drei Grabgruben geborgen werden.  Eine kleine Berlocke zierte einst eine Uhrkette oder baumelte an einem zarten Kettchen von einem Schmuckstück.

Zwei Glasscheiben von Schmuckstücken. Drei Rocailles und zwei gesprengte Perlen mit sechseckigem Querschnitt. Berlocke.
Zwei Glasscheiben von Schmuckstücken. Drei Rocailles und zwei gesprengte Perlen mit sechseckigem Querschnitt. Berlocke.