Datum: 05.06.2018 | Autor: E. Eleftheriadou
Fundort: Wien 3, Rennweg 44 und Wien 1, Michaelerplatz | Zeitstellung: Römerzeit

Aus zwei fundreichen Altgrabungen auf dem Wiener Stadtgebiet liegt eine große Zahl von Rätischer Ware vor. Die Menge des Fundmaterials resultiert in diesem Fall auch aus dem relativ großen Umfang der beiden Maßnahmen. Es handelt sich einerseits um die Grabung Wien 3, Rennweg 44 (1989/1990) im Bereich der Zivilsiedlung von Vindobona und andererseits um die Grabung Wien 1, Michaelerplatz (1990/1991) in den Canabae legionis.
Die Befunde der Grabung Rennweg 44 sind an das Ende des 1. Jahrhunderts bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. zu setzen, während das Areal des Michaelerplatzes in den Canabae offensichtlich auch in der spätrömischen Zeit benutzt wurde. Beide Fundorte liegen an der Limesstraße und bei beiden haben wir es mit Wohn- und Werkstattbereichen sowie anscheinend auch mit Verkaufslokalen zu tun.

Als Rätische Ware bzw. genauer gesagt Rätische Glanztonware wird eine dünnwandige, qualitativ sehr hochwertige, „wasserdichte“ Gefäßkeramik bezeichnet, die einen helltonigen, fein gemagerten, hart gebrannten Scherben aufweist. Ein weiteres unverwechselbares Charakteristikum ist die sehr sorgfältig ausgeführte Verzierung, eine variierende Kombination aus Barbotinedekor, „geschlitzten Tonfäden“ und Ratterdekor. Ein dunkler Glanztonüberzug, das Ergebnis einer komplizierten Brenn- und Engobetechnologie, zählt ebenso zu den typischen Eigenschaften dieser wohl als Tafelgeschirr verwendeten Ware.

Hauptverbreitungsgebiet war die Provinz Rätien – daher auch der Name –, wo mehrere Produktionsstätten wie etwa in Schwabmünchen, Günzburg, Faimingen, Straubing und in der „Töpferei am Aschberg“ nachgewiesen werden konnten. Friedrich Drexel erarbeitete erstmals in seiner Publikation zum Kastell Faimingen 1911 eine chronologische Einteilung dieser Glanztonware nach Stilgruppen – Drexel I, II, III vom Anfang des 2. Jahrhunderts bis ins 3. Jahrhundert –, die bis auf Verfeinerungen durch spätere Forscher, immer noch Gültigkeit hat.
In Pannonien findet man nicht nur importierte Exemplare, sondern es wird angenommen, dass im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts auch mit der Herstellung von lokalen Imitationen begonnen wurde. Die Zollbestimmungen hatten den Import von Rätischer Glanztonware in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts derart verteuert, dass man wohl deshalb dazu überging, in lokalen Werkstätten Imitationen anzufertigen, um den Markt zu versorgen und somit den Bedarf zu decken. Diese Imitationen unterscheiden sich zum Teil deutlich von den importierten Stücken.
Für Vindobona konnte zuletzt die lokale Herstellung von Imitationen anhand von petrografischen Dünnschliffanalysen bei drei stratifizierten Stücken aus der Grabung Rennweg 44 nachgewiesen werden.
Von den zahlreichen Funden Rätischer Keramik aus den zwei oben erwähnten Wiener Grabungen sind die meisten als lokale Imitationen anzusprechen. Unter der importierten Ware befinden sich zwei besonders bemerkenswerte Exemplare im Stil Drexel IIa, ein fast vollständig erhaltener Becher und ein größeres Fragment einer Schüssel.
Die Stilstufe IIa zeichnet sich durch mehrere übereinander angeordnete, breite Ratterdekorzonen aus, auf die lunulae (oft auch als Hufeisen oder Torques bezeichnet) in horizontaler Anordnung angebracht sind. Diese Zonen werden meist durch umlaufende Rillen(paare) getrennt bzw. eingefasst. Beim Stil Drexel IIb sind die lunulae zwischen den Ratterdekorzonen angebracht.

Becher im Stil Drexel IIa. Rennweg 44/Zivilsiedlung. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Der fast vollständig erhaltene, kugelige dünnwandige Rätische Glanztonbecher aus der Zivilsiedlung mit nach außen umgelegtem, abgesetztem Rand, ist ein Qualitätsprodukt. Das Dekor besteht, hier aus drei sehr feinteiligen, breiten Ratterdekorzonen, die durch jeweils zwei breite Rillen getrennt bzw. eingefasst werden. Beide Dekorelemente wurden höchstwahrscheinlich mit einer Metalllamelle bei drehender Scheibe angebracht. Auf den Ratterdekorzonen sind jeweils 13 Torques oder Torquesreste in Barbotinetechnik mit Barbotinetupfen (oder -punkten) an den beiden unteren Enden erhalten, die mehr oder weniger untereinander angeordnet sind. Der qualitativ hochwertige, außen metallisch glänzende, „braunschwarze“ Glanztonüberzug mit silbernem Schimmer scheint außen kräftiger aufgetragen worden zu sein.

Schüssel im Stil Drexel IIa. Michaelerplatz/Canabae legionis. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)

Die Schüssel aus den Canabae verrät eine andere Handschrift als der Becher. Das breite kugelige Gefäß mit verdicktem, nach innen abgeschrägtem Rand, ist nicht vollständig erhalten. Die Verzierung besteht hier offensichtlich aus zwei breiten und sehr feinen Ratterdekorzonen, auf denen Barbotinetorques (lunulae) mit Barbotinetupfen (oder -punkten) an den beiden unteren Enden angebracht wurden, wobei zwei davon danebengeraten zu sein scheinen. Im Unterschied zum Becher scheinen hier die Torquesreihen versetzt angeordnet worden zu sein. Die Außenseite weist einen „dunkelgraubraunen“, metallisch glänzenden Glanztonüberzug auf, die Innenseite ist mit einem „dunkelgelbbraunen“, matten Überzug versehen.

Zahlreiche Becher bzw. Schüsseln im Stil Drexel IIa, darunter vollständig erhaltene Exemplare, sind selbstverständlich vor allem aus der Provinz Rätien bekannt.
Die Gefäße vermitteln den Eindruck, dass die Töpfer nicht nur sorgfältig arbeiteten, sondern vor allem, dass sie sehr routiniert waren, denn die Herstellung derartig hochwertiger Gefäße setzt höchstes handwerkliches Geschick und Erfahrung voraus. Es dürften also hochspezialisierte Personen am Werk gewesen sein.

Das Entstehen der Rätischen Glanztonware generell wird, nach aktueller Forschung, um 120/130 bzw. 130/140 angenommen, während ein Ende der Produktion in den 230-er Jahren wahrscheinlich ist. Da der Stil Drexel II mehr oder weniger in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts gesetzt wird, ist anzunehmen, dass unsere Gefäße in dieser Zeit entstanden sind. Wann sie nach Vindobona kamen und wie lange sie in Verwendung waren, lässt sich nicht sagen. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass derartiges Luxusgeschirr länger benutzt bzw. aufbewahrt wurde.
Nicht nur aus den sog. Altgrabungen, auch aus jüngeren Grabungen der Wiener Stadtarchäologie – vor allem in der Zivilsiedlung von Vindobona, wie z. B. am Rennweg 52 – sind zahlreiche, darunter importierte, Exemplare ausgegraben worden, die dieser Keramikgruppe angehören.

Literatur
Eleni Eleftheriadou, Rätische Glanztonware Drexel IIa in Vindobona – hochwertige importierte Gefäßkeramik, Fundort Wien 20/2017, 100 –117.