Datum: 11.01.2023 | Autorin: Kinga Tarcsay
Fundort: Wien 9, Frankhplatz | Zeitstellung: 16./17. Jahrhundert

Gläserne Stiefeln …

Der Fund eines zierlichen Stiefelchens aus kobaltblauem Glas erregte schon bei seiner Entdeckung die Aufmerksamkeit des Grabungsteams am Frankhplatz (Wien 9). Hier, wo anlässlich der Baumaßnahmen für die U-Bahnlinien U2 und U5 archäologische Untersuchungen stattfinden, wurde das Stück in einer Tiefe von etwa 7 m in einer Verfüllung eines kleinen kellerartigen Raumes mit beinahe quadratischem Grundriss knapp oberhalb des Bodens geborgen.

Der Stiefelglasfund von Wien 9, Frankhplatz. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Kinga Tarcsay)
Die Schuhsohle des Stiefels. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Kinga Tarcsay)

Der gläserne Stiefel hat eine „Schuhgröße“ von 6,5 cm und eine Schafthöhe von 12,5 cm. Der Fußteil sowie die Schuhsohle sind sorgsam geformt und ausgeführt. Der untere Bereich des Stiefelschaftes wurde mit einem dünnen Glasfaden mehrfach umwickelt, von dem die unteren Windungen noch vorhanden sind, während die oberen Windungen großteils nur mehr als Abdruck auf dem Glas zu erkennen sind. Der obere Teil des Stiefelschaftes ist achtseitig ausgebildet. Der Stiefel ist zudem mit einem Sporn versehen, wobei von den ursprünglich wohl vier oder fünf Spornstrahlen nur noch einer unversehrt erhalten ist.

Die Glaswindungen sowie deren verbliebene Abdrücke am Schaft sowie der Spornrest an der Ferse des Stiefels. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Kinga Tarcsay)

Der Unterteil eines ähnlichen Stiefelgläschens kam 2007 in Wien 1, Herrengasse 10 aus einer Schachtverfüllung zu Tage. Dieses Stück war ursprünglich aus grünlich blauem Glas geformt und mit einer „Schuhgröße“ von 8,5 cm ein wenig größer, nicht bekannt ist jedoch, wie sein Schaft oder auch ein etwaiger Sporn ausgebildet waren. Aufgrund der Glasfarbe und der übrigen Funde aus der Schachtverfüllung kann das Stück in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert werden. Damit dürfte der Fund aus der Herrengasse zumindest bislang einer der ältesten seiner Art sein.

Der Stiefelglasfund von Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Kinga Tarcsay)

Generell waren gläserne Stiefel wohl ab dem 16. Jahrhundert eine beliebte Sonderform, die gerne auch aufwändig gestaltet wurde. Aus der Zeit um 1600 existieren sehr qualitätsvolle Stiefel aus farblosem Glas, die etwa mit Diamantrissdekor oder auch mit weißen Filigranfäden versehen wurden. Eine bildliche Darstellung eines solchen Stiefelchens gibt es in der sogenannten „Bichierografia“ des Giovanni Maggi von 1604. 1

All diese Stiefel weisen bezüglich der Sohlen- und Schuhform sowie der Gestaltung des Sporns große Ähnlichkeiten zum Fundstück vom Frankhplatz auf, lediglich in der Gestaltung des Schaftes sowie der Farbe weicht es ab. Nun ist die Herstellung von Gläsern von kobaltblauer Farbe, wie sie auch der Stiefel zeigt, aber auch von siegellackrotem und lilafarbigem Glas für das späte 16. und das 17. Jahrhundert charakteristisch. Die rubinrote Glasmasse eines Stiefelunterteils aus Delft (Schuhgröße 7,3 cm) hingegen weist schon auf das späte 17. Jahrhundert bzw. in die Zeit um 1700. 2

Die achtkantige Randbildung des Fundes vom Frankhplatz ist zwar für die Stiefelgläser, welche sonst in der Regel anatomisch korrekt geformte Schäfte zeigen, ungewöhnlich, jedoch bei Gläsern des 16. und 17. Jahrhunderts auch immer wieder belegt.

Wie ein solches Stiefelglas hergestellt wird, zeigt ein Video des Corning Museum of Glass.

… und Stiefelsaufen

Für schuh- oder stiefelförmige Trinkgefäße aus Keramik finden sich schon Belege aus der Bronze- und Eisenzeit. Stiefel aus Glas kamen jedoch offenbar erst im 16. und 17. Jahrhundert in größerem Umfang auf und sind auch heute noch eine beliebte Trinkgefäßform, wobei sie nun nicht mehr mundgeblasen, sondern maschinell und auch in großen Dimensionen für Schnaps oder Bier gefertigt werden. Das Stiefeltrinken hat in Deutschland eine lange Tradition und war bei Studenten und auch beim Militär – dort wurde zuweilen als Mutprobe oder Strafe aus echten Stiefeln getrunken – beliebt.

Gläserne Stiefelchen gelten als Scherzgefäße, denn spätestens ab dem Punkt, ab dem beim Trinken Luft in den Fußteil des Stiefels kommt, fängt die zuvor eingeschenkte Flüssigkeit an zu blubbern und schießt, wenn man nun nicht genügend aufpasst, wegen des entstandenen Unterdrucks nach oben. Um diesen unerwünschten Effekt zu verhindern, trinkt man entweder ganz vorsichtig oder dreht den Stiefel beim Trinken ganz langsam mit, damit nicht zu schnell Luft in den Fußteil gelangt. Die Trinkregeln besagen zudem, dass derjenige, dem das Bier als erstes entgegenschießt oder aber der Vorletzte, der aus dem Glas trinkt, die nächste Runde zahlen muss.

Der Brauch selbst geht angeblich auf das 16. Jahrhundert zurück, was zeitlich gut mit den erhaltenen Stiefelglasobjekten übereinstimmt. Der Fund aus Wien ist für ein Biertrinkspiel aber eigentlich zu klein, für ein einfaches Schnapsglas aber zu groß, sodass es möglicherweise zum Befüllen mit Schnaps vorgesehen war, wonach das Glas ebenfalls reihum gereicht wurde.

Wie alles angeblich zusammenhängt?

Der neuzeitliche Brauch des Stiefeltrinkens hat aber möglicherweise gar nichts mit dem Bekleidungsstück zu tun, sondern geht angeblich auf eine Episode im 16. Jahrhundert zurück, die den Pfarrer und Mathematiker Michael Stifel (!) dem Spott der Jenaer Studenten aussetzte, die ihn hernach, sobald er ein Wirtshaus betrat, mit einem spöttischen (heute noch bekannten) „Sti(e)fellied“ empfingen. Der Grund für all dies: Stifel hatte sich hinsichtlich des von ihm aus Bibelstellen errechneten Weltuntergangdatums am 19. Oktober 1533, 8 Uhr morgens, offensichtlich geirrt!

Michael Stifel betrieb aber nicht nur mathematische Studien und sogenannte Wortrechnungen, sondern war eigentlich eine bedeutende Persönlichkeit der Reformationszeit. So wurde er von Martin Luther höchstpersönlich zunächst nach Mansfeld und danach (im Jahr 1525) nach Oberösterreich geschickt, wo er einige Zeit als erster evangelischer Prediger in Österreich wirkte. Als er wieder nach Wittenberg kam, verschaffte ihm Luther im Oktober 1528 das Pfarramt in Lochau. Hier verkündete er, wie schon in seiner 1532 verfassten Schrift „Vom End der Welt“, angeblich auch am Neujahrsabend 1533 von der Kanzel herab die furchtbare Botschaft des bevorstehenden Weltunterganges. Daraufhin stellten Teile der Bevölkerung das Arbeiten ein und gaben all ihre Besitztümer auf. Nach dem Nichteintreten dieses Ereignisses war der Volkszorn natürlich entsprechend groß und er wurde festgenommen. Doch setzte sich Martin Luther, der Stifel zuvor noch von der Verlautbarung des Weltuntergangs abhalten hatte wollen, persönlich für den harmlosen Rechner ein, der in der Folge nur noch nüchterne Rechenbücher herausgab und schließlich sogar noch erster Professor der Mathematik an der jungen Universität Jena wurde.

Spott und Hohn blieben aber, und so sollen auch die Redewendungen „einen Stiefel rechnen“ oder „einen Stiefel reden“ auf diese Affäre zurückgehen. Und nachdem Stifel schließlich ein Verbot des auf ihn bezogenen Liedes erwirkt hatte, tranken die Studenten zum Ausgleich dafür angeblich aus einem Stiefel, den sie eigens dafür anfertigen ließen.

Ob dieser noch aus Leder oder doch schon aus Glas gefertigt war, ist leider nicht überliefert …

  1. Abbildung siehe: Anna-Elisabeth Theuerkauff-Liederwald, Venezianisches Glas der Kunstsammlungen der Veste Coburg, Veste Coburg 1994, 192–193, Nr. 174; hier auch eine Liste museal erhaltener Analogien. – Zu einem archäologischen Stiefelfund mit Filigranfäden sowie weiteren Analogien siehe: Peter Steppuhn, Glaskultur in Niedersachsen. Tafelgeschirr und Haushaltsglas vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Archäologie und Bauforschung in Lüneburg, Bd. 5, Husum 2003, 157, Nr. 4.027.
  2. Harold E. Henkes, Glas zonder glans: vijf eeuwen gebruiksglas uit de bodem van de Lage Landen 1300−1800 (Glass without gloss: utility glass from five centuries excavated in the Low Countries, 1300−1800). In: Rotterdam papers 9, 1994, 282, Nr. 58.12.