Seuchenprävention in Zeiten der Cholera – Ein Unratskanal in der Hofmühlgasse

Autorinnen: Heike Krause, Kristina Adler-Wölfl | Stand: 22.12. 2020

Viele Abwasserkanäle haben wir schon im Laufe unserer archäologischen Arbeit gesehen. Dieses Jahr ergab sich aber ein eher seltener Anblick.
Im Vorfeld der U2-Verlängerung musste in der Hofmühlgasse für den hier geplanten Zugang zur Station Pilgramgasse der bestehende Kanal umgelegt werden. An der Ecke Hofmühlgasse/Mollardgasse wurde dabei in fast fünf Meter Tiefe ein Ziegelgewölbe durchbrochen. Ein recht großer, solide gemauerter Kanal tat sich auf. Nach ausreichender Baugrubensicherung konnte eine Leiter aufgestellt und das Gewölbe besichtigt werden. Allerdings waren Gummistiefel unabdingbar, denn dort unten stand in dem geräumigen, sauber gemauerten Kanal reichlich Wasser.
Gegen Süden war der Kanal durch eine schräg verlaufende Ziegelmauer sekundär abgemauert, auf der anderen Seite lagen Ziegel und ein erdreicher Schutthaufen. Diese Blockierungen machten deutlich, dass der Kanal nicht mehr in Betrieb war. Er verlief annähernd in süd-nördlicher Richtung, begleitete also das linke Wienflussufer. Seine lichte Weite betrug ca. 1,25 m. Die Wangenbreite maß ca. 0,4 m und die rekonstruierbare lichte Höhe lag bei etwa 1,2–1,3 m.

Links: Blick in den Kanal nach Süden mit vermauerter Nische links und sekundär eingestellter Mauer im Hintergrund. Rechts: Blick in den Kanal nach Norden mit Schutthaufen. (Fotos: Stadtarchäologie Wien/ARDIG – Archäologischer Dienst GmbH)

Wie alt ist der Kanal und welche Funktion hatte er?

Über den Errichtungszeitraum geben die verwendeten Ziegel Aufschluss. Sie wiesen das sogenannte österreichische Format (ca. 28 x 14 x 7 cm) auf und trugen das erhabene Zeichen AM, das der Ziegelei von Alois Miesbach zuzuweisen ist und zwischen 1820 und den 1830er Jahren datiert.1 Der Kanal kann daher also nicht älter sein. Im Vergleich zu den sonstigen Stadtkanälen des 19. Jahrhunderts, die wir häufig unter Straßen in neu angelegten Leitungstrassen antreffen, war sein Fassungsvermögen recht groß. Die Vermutung liegt also nahe, dass er im Zusammenhang mit der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse nach Ausbruch der Cholera entstand.

Blick in den Kanal mit einem im Kanalgewölbe vermauerten Ziegel mit dem Zeichen des Produzenten Alois Miesbach (AM), Blick nach Osten. (Foto: Stadtarchäologie Wien/ARDIG – Archäologischer Dienst GmbH)

Die Cholera in Wien

Im Sommer 1831 brach diese Infektionskrankheit erstmals aus. Jeder/jede Zweite starb daran. Epidemische Seuchenausbrüche entflammten bis 1873 immer wieder in der warmen Jahreszeit. Der bakterielle Erreger, der starke Durchfälle und Erbrechen hervorruft, bevorzugt stehende Gewässer und wird über verseuchtes Wasser oder Lebensmittel, die mit diesem in Berührung kommen, aufgenommen. Ein ausreichendes Kanalisations- oder Klärwerkssystem gab es bis dahin noch nicht. Schmutzige Abwässer aller Art wurden in Bäche, den Wienfluss und in die Donau eingeleitet. Ausscheidungen Infizierter gelangten zudem über Senkgruben ins Grundwasser, in Wasserleitungen und in Brunnen.2
Zur Prävention wurde bis 1842 der Bau eines neuen Kanalisationsnetzes in der Inneren Stadt und in den Vorstädten forciert. Sein wesentlicher Bestandteil waren zwei Kanäle an beiden Ufern des Wienflusses, die die Abwässer der Vorstädte aufnehmen und in den Donaukanal einleiten sollten. Sie wurden auch Wienflusssammelkanäle, Hauptunratskanäle oder Cholerakanäle genannt.

Links: Kaiser Franz II. (I.) beim Besuch der Bauarbeiten für den neuen Sammelkanal am rechten Wienflussufer 1831, kolorierte Lithographie. (© Wien Museum) Rechts: Vorbereitung der Vermessung des Ziegelkanals in der Hofmühlgasse. (Foto: Stadtarchäologie Wien/ARDIG – Archäologischer Dienst GmbH)

Hauptunratskanäle, Hochquellwasserleitung und Donauregulierung

Der Unratskanal am rechten Wienflussufer wurde zwischen 1831 und 1834, derjenige am linken Ufer von 1836 bis 1839 erbaut. Zur Spülung wurde Wasser des Wienflusses genutzt, wobei es im Sommer aber häufig an Spülwasser mangelte. Die engeren Hauskanäle konnten nur sporadisch mit Regenwasser gereinigt werden, sodass der Choleraerreger leicht überdauerte. Bei starken Regenfällen entsorgten die Wienflusssammelkanäle das Abwasser immer noch direkt in den Wienfluss. Bei Hochwasser der Donau wurde das Abwasser in die Kanäle zurückgepresst. Erst der Bau der ersten Hochquellwasserleitung brachte ab 1873 sauberes Trinkwasser in die Stadt und die von 1870 bis 1875 vorgenommene Donauregulierung bannte die Hochwassergefahr.3 Diese zwei Projekte waren entscheidend für die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in der Stadt und führten letztlich zur Überwindung der Cholera. Gleichzeitig entwickelte man Vorschläge für eine Wienflussregulierung, die jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde.4 In der Folge wurden auch neue Abwasserkanäle erbaut.5
Der unter der Kreuzung Hofmühlgasse/Mollardgasse entdeckte Kanal ist also als Überrest des linken Wienflusssammelkanals anzusehen. Die sichtbare vermauerte Nische könnte ein ehemaliger Ab- oder Zufluss eines abgehenden oder einmündenden Kanals gewesen sein. Die sekundär aus Strangpressziegeln der Nachkriegszeit errichtete Mauer im Süden des Kanals dürfte als eine statische Sicherungsmaßnahme für die Bebauung der Hausparzelle Ecke Mollardgasse 9/Hofmühlgasse 5 zu werten sein.

Bauplan des linksseitigen Hauptunratskanals mit einem Ausfallkanal gegen Überfüllung sowie der Unterführung im Bereich des Dorotheermühlbachs, 1833/1836. (© Wiener Stadt- und Landesarchiv)

Unmittelbar westlich des Kanals und südlich der Hofmühlgasse schloss übrigens die bis 1847 arbeitende Dorotheermühle an, die schon im späten Mittelalter existierte. Sie wurde auch Hofmühle genannt und gab der Gasse ihren Namen.

Anmerkungen:

  1. Freundliche Mitteilung von Paul Mitchell (Wien).
  2. Andreas Weigl, Cholera. Eine Seuche verändert die Stadt. In: Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1, Wien 2018, S. 5 und 9; Walter Öhlinger, Die Cholera in Wien 1831/32. Sauberes Wasser als Mangelware. Wien Museum/Magazin, 26.3. 2020, https://magazin.wienmuseum.at/die-cholera-in-wien-1831/32.
  3. Andreas Weigl, Cholera. Eine Seuche verändert die Stadt. In: Wiener Geschichtsblätter Beiheft 1, Wien 2018, S. 17.
  4. Gudrun Pollack, Verschmutzt – Verbaut – Vergessen. Eine Umweltgeschichte des Wienflusses von 1780 bis 1910. Social Ecology Working Paper 138, Wien 2013, S. 114–121.
  5. Wiener Stadt- und Landesarchiv, 3.2.2.P5.114187 – 6., Mollardgasse, Umbau des Sammelkanals, 1901 bzw. 3.2.2.P5.116492 – Kanalbau: 6., Hofmühlgasse, 1907.