Vom Magdalenengrund vulgo Ratzenstadel
Autorinnen: Kristina Adler-Wölfl, Valerie Strunz I Stand: 24. April 2025
Haben Sie es auch schon gehört? Debohra hat es geschafft! Nachdem sie sich Ende September 2024 am Matzleinsdorfer Platz auf den Weg gemacht hat, ist sie Mitte März bei der U-Bahn-Station Pilgramgasse angekommen und gönnt sich nun eine wohlverdiente kurze Verschnaufpause. Deborah ist eine 127 Meter lange, 1300 Tonnen schwere Tunnelvortriebsmaschine, die ganz in der Tradition des Bergbaus einen eigenen Vornamen bekommen hat.
Aber nicht nur am rechten Wienflussufer schreitet der Ausbau der Linie U2 voran, auch auf der anderen Seite des Flusses tut sich viel. In der Kaunitzgasse etwa wird eine Gleiswechselanlage und ein Notausstieg errichtet. Der an der Oberfläche sichtbare Schacht liegt im Zwickel zwischen der Kaunitzgasse und der Magdalenenstraße.

Infrastruktur unter Tage
Bei im Untergrund stattfindenden Baggerarbeiten wurde im Herbst 2024 vor dem Haus Kaunitzgasse 35 ein Brunnen entdeckt. Der Bauträger informierte sofort die Stadtarchäologie, sodass der in Vergessenheit geratene Hausbrunnen dokumentiert werden konnte.

Der freigelegte Abschnitt lag in einer Tiefe von ca. 30 Metern und seine Unterkante war noch immer nicht erreicht! Der verfüllte Schacht hatte einen Außendurchmesser von etwa einem Meter und war durchgehend aus Ziegeln errichtet. Zahlreiche Ziegel trugen das Zeichen „IG“ in einem Herz und können daher den Ziegeleien des Johann Gansterer in Guntramsdorf und Leobersdorf, welche von 1815 bis 1838 den Baustoff herstellten, zugeordnet werden.
Am Südende der Kaunitzgasse
In der Überlagerung mit dem Katasterplan von 1863 zeigt sich, dass der Brunnen wohl auf der Parzelle des Hauses mit der damaligen Konskriptionsnummer 18 lag, die sich bis zur Kaunitzgasse erstreckte. Er ist wahrscheinlich im Hinterhof, wo auf dem Plan eine Steintreppe (hellrosa) und ein Holzgebäude (hellgelb) verzeichnet sind, zu verorten. Die heutige Baulinie der Häuser ist weiter zurückversetzt, daher liegt der Brunnen jetzt unter dem Gehsteig vor dem Haus Kaunitzgasse 35.

Aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen auch die im Jahr 2022 aufgedeckten Baustrukturen im Zwickelbereich der beiden Straßen. Von diesen, im Katasterplan von 1863 mit den Nummern 17 und 16 ausgewiesenen Häusern konnten noch Reste von Kellerräumen mit Ziegelböden, Stiegenabgänge und auch eine Innenhofpflasterung aus großen Steinen dokumentiert werden.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert hat man die Häuser im südlichen Teil des Magdalenengrundes und somit auch das Haus, zu dem unser Brunnen gehörte, geschleift und schließlich 1890 bzw. 1897 die heute noch bestehenden Häuser Kaunitzgasse 33 und 35 bzw. Magdalenenstraße 20 und 22 errichtet. Die schmale Fläche im Spitz des Zwickels zwischen den beiden Straßen beließ man unbebaut. Auch umfassende Niveauanpassungen, um die großen Höhenunterschiede auszugleichen, veränderten dieses Gebiet am Abhang zum Wienfluss stark. So verlief etwa die Magdalenenstraße deutlich tiefer als heute.
Zur Geschichte des Magdalenengrunds
Das durch Schenkung an die Bruderschaft in der Maria-Magdalena-Kapelle bei St. Stephan gelangte Gebiet war bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts von Weingärten und verstreut liegenden Hütten geprägt. Nach der zweiten Osmanischen Belagerung 1683 setzte durch Grundverkauf ein „Bauboom“ ein. Die so entstandene Vorstadt wurde 1756 nach der ursprünglichen Grundherrschaft Magdalenengrund benannt. In der 1778 gedruckten Vogelschau von Joseph Daniel Huber ist sehr anschaulich die kleinteilige Siedlungsstruktur wiedergegeben.

Der Name Kaunitzgasse geht auf Wenzel Anton Fürst Kaunitz (1711–1794) zurück, dem auch die westlich der Gasse anschließende Mollardsche Ziegelei gehörte. Die für die Produktion notwendige Materialentnahme ist noch heute an der Geländestufe im Bereich der Kaunitzgasse erahnbar, vor allem bei der Corneliusstiege und der Viktor-Matejka-Stiege in der Nähe des heutigen Apollo-Kinos. Zur Zeit der Planaufnahme von Huber war die Ziegelei offensichtlich bereits aufgelassen.
An dem relativ steilen Hang zum Wienfluss entstanden kleine, pittoresk anmutende ebenerdige oder einstöckige Giebelhäuser. Wegen seines dörflichen Charakters war der Magdalenengrund, der vor allem auch unter dem Namen „Ratzenstadl“ bekannt war, ein bei Künstler:innen beliebtes Motiv. Der Maler Anton Bienert (1870–1960) etwa fertigte neben zahlreichen Aquarellen sogar ein detailreiches Model an, welches das „Ratzenstadl um 1820“ zeigen soll. Noch heute kann dieses im Bezirksmuseum Mariahilf bewundert werden.

Tatsächlich war die kleinste Vorstadt Wiens durch enge, finstere, verwinkelte Gassen geprägt. Hinter den lieblichen Fassaden lebten die Menschen unter sehr schlechten Bedingungen. Neben Gastronomie, Kleinkunst und Prostitution verdienten die Menschen ihr Geld vor allem als Tagelöhner. Zudem litt die Gegend unter der Wasserverschmutzung durch Färbereien und Gerbereien und wiederkehrenden Hochwässern. So wurde das Ratzenstadel, dessen Name ursprünglich von den dort siedelnden Raizen oder Razen (volkstümlich für Serben) herrühren soll, in seiner Wortbedeutung als Synonym für die dortigen schlechten Lebensbedingungen aufgefasst.
Die Qualität des Grundwassers litt durch die mangelnde Kanalisation zunehmend, was in einer durch Hausbrunnen versorgten Gegend fatale Folgen hatte. Als Reaktion auf die Choleraepidemie in den 1830er Jahren wurden nicht nur die Wienflusssammelkanäle zur Abwasserentsorgung errichtet, sondern 1841 auch das Viertel durch die Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung erschlossen, von der sich ein Auslaufbrunnen vor dem heutigen Haus Kaunitzgasse 9 befand.
Zahlreiche Häuser sind bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend erhalten geblieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand jedoch eine umfangreiche Sanierung des Gebietes statt und so ist heute nur noch ein Haus – Kaunitzgasse 7, das ehemalige Gasthaus „Zur Flucht nach Ägypten“ – des Ensembles erhalten.
