Autorin: Christine Ranseder
Vor einigen Wochen ging es hier um zwei Randbruchstücke von Töpfen des späten 8./frühen 9. Jahrhunderts, die in Hernals zu Tage kamen. Seitdem liegen wir auf der Lauer und ich wurde fündig. Ein kleines Fragment eines Ohrrings aus dieser Zeit versteckte sich in der Verfüllung eines gestörten Grabes des Friedhofs am St.-Bartholomäus-Platz in Hernals (Wien 17).
Auf diesem Friedhof ging es drunter und drüber. Die Gräber waren nicht in geordneten Reihen angelegt worden. Ganz im Gegenteil. Beim Ausheben eines neuen Grabes wurde so manches alte Grab beschädigt und dabei Knochen, Beigaben und Erdreich umgelagert. Darüber hinaus trugen im Lauf der Jahrhunderte auch Baumaßnahmen aller Art zur Störung der Totenruhe bei. Dieses Schicksal erlitt auch jenes Grab, dem der zarte Ohrring aus Draht während der Ausgrabung zugeordnet worden war. Der spärliche Rest der Bestattung umfasste einige Knochen, eine stark beschädigte Wallfahrtsmedaille und das Fragment eines Anhängers aus Ton, von dessen Fassung nur eine Glasscheibe erhalten geblieben war. Die anthropologische Untersuchung zeigte, dass es sich um die Knochen einer etwa 50-70 Jahre alten Frau handelte. So weit, so gut. Die Datierung der religiösen Beigaben harmoniert jedoch ganz und gar nicht mit dem Drahtring. Die Medaille zeigt auf einer Seite das Gnadenbild von Mariazell und kann an die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert gestellt werden. Das kleine Tonrelief mit der Darstellung einer geflügelten Figur, die ein Kind an der Hand hält, stammt aus dem 18. Jahrhundert.
Angesichts der zeitlichen Differenz zu den viel jüngeren religiösen Beigaben kann der Ohrring nicht der in diesem Grab bestatteten Frau gehört haben. Er war kein altmodisches Erbstück, das einem geliebten Menschen auf dem Weg ins Jenseits begleitete. Vielmehr gelangte er mit dem Erdreich beim Zuschütten der Grabgrube oder im Zuge der (Zer)Störung des Grabes in dieses.
Der Ohrring war also viele Jahrhunderte zuvor zufällig in den Boden geraten, weil ihn jemand verloren hatte. Doch wer? Und schon wieder tappen ArchäologInnen im Dunkeln und wenden sich hilfesuchend dem Fund zu. Was verrät uns das Schmuckstück außer, dass es verloren gegangen war? Die Erfinder einfacher Drahtringe mit S-förmigem Ende, die als Ohrringe oder Haarschmuck (Schläfenringe) getragen wurden, waren vermutlich die Slawen. Die Verbreitung des zarten Schmucks, der in verschiedenen Ausführungen vom 8. bis ins 14. Jahrhundert beliebt war, geht jedoch über das slawische Siedlungsgebiet hinaus. Ringe mit Drahtumwicklungen und aufgeschobenen hohlen Kugeln kamen im 9. Jahrhundert in Mode. Zu ihnen zählt auch unser Fund. Das eigenartige aufgeschobene Klümpchen zwischen den beiden Spiralen dürfte der Rest einer Hohlkugel in Durchbruchsarbeit sein. Eine Idee, wie der Ohrring ursprünglich ausgesehen haben könnte, vermittelt ein goldenes Exemplar mit aus Draht gearbeiteten Hohlkugeln im Germanischen Nationalmuseum.
Nicht weit von unserer Fundstelle verlief eine ehemalige Römerstraße. Vielleicht wurde diese Ost-West-Verbindung ja stärker genutzt als ArchäologInnen vermuten und derzeit nachweisen können?
Und die Lehre aus der Geschichte? Auch neuzeitliche Gräber entsprechen nur selten dem Wunschtraum vom geschlossenen, das heißt ungestörtem und zeitlich einheitlichem, Fund. Ohne genaues Hinsehen und Hinterfragen geht es nicht. Diese Recherche-Zeit muss man sich als ArchäologIn wert sein. Letztendlich zahlt es sich aus, denn auch Schüttmaterial kann mit Überraschungen beglücken.