Autorin: Christine Ranseder
Wenn ArchäologInnen sich der Spekulation hingeben, schaut dabei nie Geld heraus. Aha-Erlebnisse sind jedoch nicht ausgeschlossen. Manchmal lässt das Spiel mit Ideen allerdings Ratlosigkeit zurück. Grund dafür ist, dass bei der Aufarbeitung von Funden meist Bruchstücken Informationen zur einstigen Gestalt, Beschaffenheit und Verwendung eines Objektes abgerungen werden müssen. Dabei kann es sich um Routinearbeit handeln, weil ähnliche Gegenstände in besserem Erhaltungszustand bereits ausreichend bekannt sind. Bei kniffeligeren oder seltenen Fragmenten wird die Aufgabenstellung jedoch oft durch einen Mangel an – publizierten – Vergleichsbeispielen erschwert. Leidet die Bearbeiterin an unstillbarer Neugier oder soll der datierte Fund auch mit kulturellen, wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklungen seiner Zeit in Beziehung gesetzt werden, wird die wissenschaftliche Komfortzone schnell verlassen. Ein Beispiel gefällig?
Was haben wir denn da?
Nehmen wir drei Gefäßscherben aus der Grabung in der Rasumofskygasse 29–31. Sie wurden aus einer Grube – vermutlich eine Latrine, in der später Abfall entsorgt worden war – geborgen.
Es handelt sich bei den drei Funden um mehrfarbig glasierte Irdenware. Der plastische Dekor wurde separat in Modeln geformt und auf die scheibengedrehten Gefäße appliziert. Keramik dieser Art kam in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Süddeutschland in Mode, sie wurde jedoch auch noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hergestellt und verwendet. Als Vorbild und Inspiration für den Dekor der Irdenware dienten wahrscheinlich die aufwändigen Verzierungen des hochwertigeren und damit prestigeträchtigeren Steinzeugs.
Von jedem unserer Bruchstücke waren Dekor, Beschaffenheit des Tons, Oberfläche, Glasurfarben und herstellungstechnische Merkmale schnell erfasst. Ein Blick in die Literatur bescherte zwei vollständig erhaltene Krüge aus Ausgrabungen in Regensburg als nahezu perfekte Vergleiche für Form und Verzierung. [1] Ergebnis: Drei Datensätze für den Katalog einer Publikation in ferner Zukunft. Die Funde mussten nur noch gezeichnet und fotografiert werden. Dabei könnte ich es belassen und wäre auf der sicheren Seite. Doch wer zeichnet, schaut genauer hin. Und schon hebt Neugier ihr Haupt und lädt Mutmaßung zum Tee.
Wie viele Gefäße?
Im Vergleich mit dem Krug aus Regensburg, Lederergasse 1, erweckten die Scherben auf den ersten Blick den Anschein als würden sie zu einem Gefäß gehören. Beim Zeichnen beschlichen mich nagende Zweifel. Hier das Selbstgespräch (das eigentlich nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte) – unzensuriert.
„Hm. Mal sehen, wie sich das Medaillon montiert in die Proportionen des Regensburger Kruges macht.
[… konzentriertes Zeichnen in Adobe Illustrator und Photoshop …]
Ja, nicht schlecht. Passt auch zu anderen Beispielen zur Anbringung der Medaillons. Jetzt das Bruchstück mit der Darstellung der Edelfrau auf die Halspartie. Klobig, unproportioniert – wie war noch mal der Durchmesser. Hoppla, acht Zentimeter! Vergiss es, das kann nicht passen, auch vom Motiv her nicht. Zweiter Krug?
[ … skalieren der rekonstruierten Ganzform auf acht Zentimeter Halsdurchmesser …]
Ja, bedeutend besser. Also zwei Krüge unterschiedlicher Größe? Wurden die Krüge wirklich in dieser Größe hergestellt? Verdammter Mangel an vollständigen bemaßten Vergleichsbeispielen! Jetzt das Stück mit den Blüten dazu. Also die Winkel der Streifen auf den beiden Scherben unterscheiden sich etwas.
[ … Griff zum Originalscherben …]
Auf der Scherbe mit den Blumen sind sie aber auch nicht exakt parallel. Tatteriger Töpfer oder die Streifen waren in voller Länge stärker geschwungen. Müssten neben der Edelfrau fünf Streifen gewesen sein, blau – weiß – blau – weiß – blau, plus gelber Streifen. Bruchstücke von entfernter liegenden Stellen am Hals? Dann wäre die Dame das vordere Zentrum, etwa ein Drittel des Halses, und die Blümchenscherbe im linken Drittel hinten. Wie ist denn die Relation in der Höhe?
[ … herumspielen mit Originalscherbe, Blatt Papier mit parallelen Linien und Kaffeehäferl als Stütze …]
Yep, bei relativ einheitlich eingehaltener Streifenneigung wird der Hals höher. Wirkt völlig unproportioniert. Drei Krüge? Hmmm, es gibt doch auch humpenartige Dinger mit so einem Wulst unter dem Rand
und Steinzeug-Humpen mit Figuren in Bögen. Ausprobieren.
[… Griff zum Fotoapparat, danach konzentriertes Zeichnen in Adobe Illustrator und Photoshop …]
Jaaa, ginge auch …. Krug und Humpen???“
Belassen wir es dabei: Wir haben Scherben von Trinkgefäßen gefunden. Gewissheiten sind in der Archäologie oft ein rares Gut.
Was könnten die Scherben über den ehemaligen Besitzer der Gefäße verraten?
Die polychrom glasierten Trinkgefäße gehörten zum besseren Tischgeschirr. Wirklich protzig, wie ihre Vorbilder aus Steinzeug, sind sie nicht und den Gefäßen aus Metall, mit denen die wirklich Reichen ihre Tafel schmückten, können sie nicht das Wasser reichen. Die bunt bemalte Keramik dürfte ein bescheidener Luxus, vielleicht auch ein Ausdruck von Lebensfreude gewesen sein. Mit den Motiven der Dekoration ließen sich sogar subtile Botschaften übermitteln. Käufer von Krügen mit applizierten Medaillons konnten aus einem großen Repertoire an Darstellungen wählen: Doppeladler, Fürstenbildnisse und Apostelporträts waren ebenso beliebt wie Szenen aus der Bibel und der antiken Mythologie.
Das in der Rasumofskygasse gefundene Medaillon zeigt Minerva, die antike Göttin der Weisheit und taktischen Kriegsführung. Zu erkennen ist sie an Helm, Schild und Speer – ihre Eule hat sie Zuhause gelassen. Die Beschützerin der Handwerker und Dichter wurde bereits von den Römern gerne auf feinem Tischgeschirr abgebildet. Wollte der Besitzer des renaissancezeitlichen Kruges mit der Wahl des Motivs auf seine Bildung, die zu dieser Zeit noch Prestige verlieh, anspielen?
Die Hersteller der Keramik hatten jedenfalls ihre Finger am Puls der Zeit. Das beweist die Kleidung der Dame auf dem zweiten figural verzierten Bruchstück. Es handelt sich um eine Edelfrau in einem
Überkleid mit Hängeärmeln und geschlitzten Unterärmel, als dessen Vorbild die spanische Hoftracht diente. Der angekrauste Rock verrät hingegen französischen Einfluss. Eine ähnliche Kombination stilistischer Merkmale zeichnet auch das Kleid, in dem die Pfalzgräfin Dorothea Sabina 1598 in der Lauinger Fürstengruft bestattet wurde, aus. Es befindet sich heute im Bayerischen Nationalmuseum, München.
Für ArchäologInnen sind die Darstellungen modisch gekleideter Menschen auf alltäglichen Sachgütern eine Hilfe bei der Datierung von Funden. Doch was bedeuteten sie für die einstigen Käufer der Gegenstände? Dienten sie als Identifikationsfiguren mit einer Gesellschaftsschicht, der man gerne angehört hätte?
Oh, für die Fähigkeit des Zeitreisens! Die einstigen Besitzer würden sich angesichts solcher Interpretationen vermutlich krumm lachen!
[1] Da eine Verlinkung nicht möglich ist, für alle, die es ganz genau wissen wollen: W. Endres/H. Millitzer, Keramikfunde aus der „Großen Latrine“ im Anwesen Auergasse 10 in Regensburg. In: A. Boos (Hg.), Wirtshauskultur. Archäologie, Geschichte und Hinterlassenschaften einer alten Regensburger Schänke, Regensburg 2002, 29–96, Farbtafel 16.
Und ja, es gibt eine exakte Entsprechung zu dem Medaillon mit Minerva: Thomas Kühtreiber, Die Ausgrabungen in der Alten Universität in Wien (1997–2002), Unpubl. Dissertation, Universität Wien, Wien 2006, Band 1, 242, A675 und Band 2, 254,Tafel 67, A675.