Relikte vom Ende des Zweiten Weltkriegs in einem verschütteten Eiskeller

AutorInnen: Dimitrios Boulasikis, Heike Krause, Michael Schulz, Ullrike Zeger | Stand: 27.1. 2022

Im Laufe von begleitenden Maßnahmen im Vorfeld des U-Bahn-Baus haben wir mehrfach aus den Tiefen zahlreicher Häuser in den Vorstädten berichtet. Jedes Haus birgt seine ganz eigene Geschichte. So werfen aufgedeckte Überreste in einem verschütteten Eiskeller des Hauses Reichsratsstraße 15/Liebiggasse 2 ein Schlaglicht auf die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs.

Dieses Wohn- und Geschäftshaus wurde von 1887 bis 1889 auf dem ehemaligen Glacis, dem freien Schussfeld vor dem Festungsgraben, im Auftrag von Heinrich Krall nach dem Entwurf des überaus erfolgreichen und vielbeschäftigten Architekten Wilhelm Stiassny (1842–1910) unweit der Votivkirche errichtet.

Das Haus Reichsratsstraße 15 in einer Aufnahme von Fred Hennings aus dem Jahr 1941 (© Wien Museum) und der Eingangsbereich im heutigen Zustand. (Foto: L. Rastl)

Das Haus und seine Nutzung

Bis in die 1930er Jahre versorgte hier im Souterrain die „Mensa academica“, eine Speiseanstalt der Universität Wien, Studierende mit kostengünstigen Mahlzeiten.1 Zeitgenössische Adressbücher überliefern uns die Namen von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie von weiteren im Haus untergebrachten Institutionen. So wohnte hier Dr. Rudolf Rosner, der das Bank- und Wechselgeschäft Ignaz Rosner am Schottenring 17 führte. Er floh – wie viele andere Wiener Jüdinnen und Juden – nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 ins Ausland und wurde in der Folge offiziell steckbrieflich gesucht.2 In dieser Zeit zog Dr. Karl Porzinsky in das Haus.3 Er war bereits 1932 illegal der NSDAP beigetreten und gehörte seit 1941 dem NS-Ärztebund an.4

Die NSDAP-Ortsgruppe Burgviertel hatte als eine der 32 Ortsgruppen des Kreises I von 1939 bis 1945 in Lokalitäten des Hauses ihren Sitz.5 Zudem war die Deutsche Arbeitsfront (DAF) als Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber hier eingemietet.6

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm die Mietervereinigung Österreichs wieder ihre Vereinstätigkeit auf. Sie zog 1945 in die Reichsratsstraße 15 ein.

Die Kellerräume

Von Anfang an war ein Restaurationslokal an der Ecke Reichratsstraße/Liebiggasse geplant. Das Souterrain beherbergte für die Mensa neben Speiseräumen auch Lagerräume etwa für Gemüse, Wein und Bier, eine Küche mit Speiselift, eine Waschküche und weitere Kellerabteile.

Ein tiefer gelegener Eiskeller war vom Bierkeller aus über einen Stiegenabgang erreichbar. Seine zur Liebiggasse gelegene Südmauer weist zwei Nischenöffnungen auf, wovon die östliche ein Schacht war, der wohl der Einbringung des Eises von außen diente.

Bauplan des Architekten Wilhelm Stiassny vom Souterrain und Ausschnitt mit dem darunter befindlichen Eiskeller, 1887. (© MA 37 – Baupolizei)

Der Stiegenabgang zum Eiskeller war zu Beginn der Dokumentationsarbeiten noch mit einer bis zu 1 m hohen, auch Schrott enthaltenden Sandschüttung verschlossen. Der Eiskeller selbst war mit Sand, Abbruchmaterial wie Ziegel und aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden Objekten unterschiedlicher Funktion rund 0,80 m hoch angeschüttet. Die Nischen an der Liebiggasse waren im Inneren noch sichtbar, aber ebenfalls großteils verfüllt. Diese Schichten mussten zwecks Herstellung einer Stahlbetonbodenplatte bis auf den Ziegelboden des Kellers abgetragen werden.

Links: Freigelegter Stiegenabgang in den Eiskeller (Foto: L. Rastl). Rechts: Verfüllte Nischen in der Südmauer des Raumes sowie ein Schnitt durch die Anschüttungen in der Mitte des Kellers. (Fotos: Stadtarchäologie Wien/archnet Bau- und Bodendenkmalpflege GmbH)

Das Verfüllen von Keller und Treppe dürfte vom Stiegenzugang innerhalb des Hauses zu Kriegsende erfolgt sein. Ein Teil der Anschüttungen kam aber auch durch den Schacht und die Fensternische von außen hinein. Darin fand sich Bau- bzw. Kriegsschutt, der mit diversem zerstörtem Hausrat und Teilen von Haustechnik, Baukeramik etc. vermischt war.

Bergung des entsorgten Guts im oberen Anschüttungsbereich des Eiskellers, Blick Richtung Süden. (Foto: L. Rastl) 

Unmengen an verschüttetem Material aus der NS-Zeit

Massen an Spendenbelegen des Winterhilfswerks des Deutschen Volkes der Zeit von 1933 bis 1943 traten zutage. Insgesamt wurden mehr als 126.000 Stück gezählt. Die Stiftung Winterhilfswerk sammelte Sach- und Geldspenden, um damit Bedürftige zu unterstützen. Ab dem Winter 1933/34 wurden im „Dritten Reich“ unter der Führung Josef Goebbels verschiedene ähnlich gelagerte Aktionen gebündelt und damit auch zu einem hervorragenden Propagandainstrument gemacht. Viele der Spendenbelege konnten als Abzeichen sichtbar getragen werden.

Die Palette der dargestellten Themen reichte von Natur- oder Märchenmotiven bis hin zu ideologisch aufgeladenen Trachten- oder Militärmotiven sowie nationalsozialistischen Symbolen. Die im Fundmaterial am häufigsten vertretenen Sujets waren „Alpenblumen“ (1939), „Schmuck alter Kulturvölker“ (1941/42) und „Altgermanische Kampfbeile und Streitäxte“ (1940/41). Zwei Drittel der Spendenbelege bestanden aus Metall, hinzu kommen Abzeichen aus Glas, Keramik und Kunststoff sowie organischen Materialien wie Bernstein, Holz, Leder und Muscheln. Zudem fanden sich kleine Propagandaheftchen aus Papier. Unbrauchbar gemachte Karabiner, Schmierstoffhülsen mutmaßlich für Artilleriegeschütze, wurden offensichtlich ebenfalls absichtlich im Eiskeller deponiert.

Querschnitt durch das Konvolut an Fundmaterial: Gewöhnlicher Hausrat, diverse NS-Propaganda-Schriften und massenhaft Winterhilfswerkabzeichen. (Fotos: L. Rastl)

Die angetroffene Situation und die wiederentdeckten Objekte werfen ein Licht auf die Aktionen des NS-Regimes und seiner Funktionsträger in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Nicht mehr benötigte „Spendenbelege“ dürften schnell entsorgt und mit ihnen auch militärische Gegenstände versteckt worden sein. Eine hohe Anzahl von Schaumweinflaschen dürften geleert und ebenfalls hier deponiert worden sein. Schließlich kamen auch aufgelassene Wohnungsinventare, Bauschutt und am Ende Sand, vermutlich aus den Stellungsbefestigungen des Krieges, hinzu.

Der Eiskeller wurde absichtlich verschüttet und in ihm die Zeitzeugnisse der NS-Zeit verborgen. Er geriet vollständig in Vergessenheit, bis er durch die Ertüchtigungsmaßnahmen im Vorfeld des U-Bahn-Baus wieder geöffnet wurde.

Geleerte Schaumweinflaschen in einer unteren Schuttlage. (Foto: Stadtarchäologie Wien/archnet)

Anmerkungen:

  1. Universitätsarchiv Senat S 22 Mensa academica 1890/91–1894/95 und Fotosammlung 106.I.4097, Fotoalbum von ca. 1892.
  2. Völkischer Beobachter, 26. Juni 1938, S. 25.
  3. Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1941, S. 1010.
  4. Claudia Spring, „Patient tobte und drohte mit Selbstmord“. NS-Zwangssterilisationen in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof und deren Rechtfertigung in der Zweiten Republik. In: Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung. Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien Teil II, Wien et al. 2002, S. 41–76; hier nach Volltextarchiv, S. 18 f. und S. 28.
  5. Handbuch Reichsgau Wien 63/64, 1941, S. 13 und 65/66, 1944, S. 63.
  6. Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1939, S. 69 und 1940, S. 40.