Datum: 28.06.2018 | Autor: Kinga Tarcsay
Fundort: Wien 1, Herrengasse 10 | Zeitstellung: 15. Jahrhundert

Der Sensationsfund aus Wien

Die dem Sattel zugehörigen beinernen Reste wurden – neben einer großen Menge an Keramik- und Glasgefäßen sowie weiteren Knochenfunden – in einer Grube in der Herrengasse 10 geborgen, die wohl ursprünglich als Brunnen gedient hatte und nach dessen Aufgabe ab dem Spätmittelalter über mehrere Jahrhunderte hinweg als Latrine genutzt wurde. Aber erst bei der Reinigung der Fundobjekte zeigte sich, dass es sich hierbei nicht um gewöhnliche Knochenstücke, sondern um bearbeitete, dekorierte Fragmente aus Bein handelte.

Obwohl derartige Stücke nicht gerade zum „Standardfundrepertoire“ einer Archäologin gehören, konnten sie aufgrund ihrer charakteristischen Form rasch als Teile eines besonderen Sattels bestimmt werden. Erhalten blieben beinerne Platten, die in Relief- und Gravurtechnik hergestellte Muster, emblemartige Darstellungen sowie Schriftzeichen („Minuskeln“) aufweisen, zudem einige einfassende Rahmenstücke und Stegreste aus Bein – alles Bestandteile eines in einer speziellen Technik hergestellten spätmittelalterlichen Sattels.

Platte von einer Seite des Sattelkopfes. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Platte von der anderen Seite des Sattelkopfes. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Rundovale Plattenreste mit rekonstruierter Anordnung. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Sattelrahmenteile. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Gegabelter Sattelrahmen mit Steg. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Stegreste. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)
Stifte. Fundort: Wien 1, Herrengasse 10. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)

Analogien und Aussehen

In mühsamer Kleinarbeit wurde das ursprüngliche Aussehen des Sattels rekonstruiert, bei dem es sich offenbar um den ersten archäologischen Beleg für eine sehr einheitliche Gruppe von spätmittelalterlichen Prunksätteln handelt. Nicht mehr als rund 25 Exemplare dieser seltenen Objekte sind in verschiedenen Sammlungen und Museen auf der ganzen Welt erhalten geblieben. Die Sättel zeichnen sich nicht nur durch ihre besondere Form und den gleichartigen Aufbau, sondern eben auch durch die auf der Oberfläche montierten, meist prächtig dekorierten Beinplatten aus. Gleich zwei solche Exemplare sind in der Hofjagd- und Rüstkammer Wien zu sehen.

Viele der in diversen Museen erhaltenen Stücke stammen – soweit bestimmbar – aus dem ungarisch-österreichischen, aber auch aus dem italienischen Raum. Der genaue Herstellungsort und die exakte Datierung sind bis heute unklar, weshalb die Sättel vorerst nur in den relativ langen Zeitraum zwischen dem späten 14. und dem späten 15. Jh. datiert und in unterschiedlichen Regionen Mitteleuropas lokalisiert werden können. Immerhin liegen auch einige schriftliche Zeugnisse und bildliche Darstellungen vor, die sich auf diesen Satteltyp beziehen dürften.

Die Sättel wurden häufig mit ikonografischen Darstellungen reich dekoriert oder auch mit Devisen bzw. Sprüchen versehen, die häufig in Oberdeutsch (v. a. Bayerisch und Tirolerisch), vereinzelt aber auch in Mitteldeutsch (Schlesisch) abgefasst wurden; italienische bzw. lateinische Inschriften finden sich seltener. Die Sprache der Inschriften selbst lässt jedoch keinen direkten Schluss auf den Entstehungsort zu, sie könnte auch vom jeweiligen Auftraggeber abhängig gewesen sein. Für die Verzierung sind auch einzeln stehende Buchstaben oder Monogramme typisch, deren gesicherte Aufschlüsselung jedoch meist nicht möglich ist.

Die in Wien geborgenen Fragmente waren ursprünglich auf dem Vorderteil, vor allem dem Kopf, sowie auf der Sitzfläche des Sattels montiert. Obwohl vom ursprünglichen Sattel nur ein verhältnismäßig kleiner Teil erhalten geblieben ist, lassen die charakteristischen Sattelschnecken (Nr. 1) sowie der flach ausladende Rahmenteil der Sitzfläche (Hinterzwiesel; Nr. 2) eine eindeutige Zuordnung zu dem geläufigeren Kombinationstyp zu, bei dem der Sattelkopf nicht vertikal in die Höhe ragt, sondern in zwei elliptischen, leicht voneinander nach außen abstehenden Schnecken endet. Die meisten dieser Fragmente lassen sich anhand der Analogien für eine zeichnerische Rekonstruktion gut zuordnen.

Rekonstruktion des Sattels aus Wien 1., Herrengasse 10. (Rekonstruktion: Stadtarchäologie Wien)

Anhand der auf dem noch erkennbaren Reste war der Sattel auf der Schnecke mit palmettenartigem Dekor, Banderolen mit den Initialen „mn“ bzw. einer Devise sowie offenbar gedrehten Schlingpflanzenornamenten und wappenartigen Motiven geschmückt. Aufgrund dieser Elemente zeigt er große Ähnlichkeiten zu jenen Sätteln dieser Gruppe, die keine oder nur vereinzelte figürliche Darstellungen aufweisen. Eine ähnliche Buchstabenkombination in der Art eines kleinen „m“ und eines „n“ findet sich auf drei weiteren Sätteln, auch sie kann jedoch vorläufig nicht eindeutig interpretiert werden.

Herstellung

So wie auch bei den Wiener Fundstücken geht man heute bei den meisten Sätteln davon aus, dass als Rohmaterial für die Plattenteile v. a. Pferde- oder Rinderbeckenknochen sowie – für die Rahmung – Hirschgeweih verwendet wurde. Anstelle des zunehmend schwerer zu beschaffenden Elfenbeins war man nämlich ab dem späten 14. Jahrhundert immer mehr gezwungen, auf diese „heimischen“ Materialien auszuweichen, wobei man gleichartige Techniken wie bei der Elfenbeinbearbeitung anwandte. Aufgrund ihrer reich dekorierten Oberfläche wurden bzw. werden diese prunkvollen Sättel aber noch lange als Elfenbeinsättel angesprochen.

Die Sättel wurden in einer speziellen Technik hergestellt, indem man auf einem hölzernen Rahmen (Sattelbaum) auf der Unterseite Birkenrinde sowie auf der Oberseite Leder und auf diesem schließlich die Beinplatten mittels Beinstiften befestigte.
Um den Knochen für die Bearbeitung gefügiger zu machen, dürfte er – wie verschiedene Experimente gezeigt haben – tagelang in natürliche Säure (saure Milch, Essig, Harn etc.) eingelegt worden sein, sodass er nach dem Kochen in heißem Wasser gebogen werden konnte und der während des Trocknens fixierte Gegenstand die ihm gegebene Form endgültig behielt.
Anschließend wurden die Beinplatten poliert sowie Verzierungen oder auch Inschriften in Relief- und Gravurtechnik angebracht und fallweise mit Farbfassungen oder Vergoldung versehen. Bei dem Wiener Fund wurden zumindest die Minuskeln, vermutlich aber auch der emblemartige Teil mit schwarzer Farbe, wohl Kohlewachs, ausgefüllt.

Verwendung

Aufgrund des zerbrechlichen Eindruckes wird immer wieder diskutiert, ob man auf den mit Beinplatten besetzten Sätteln überhaupt reiten konnte. Falls dies tatsächlich der Fall war, dann wohl nur im zivilen Bereich, etwa zu Repräsentationszwecken oder für die Jagd. Vor allem aber wurden diese Sättel offenbar bereits zu ihrer Entstehungszeit nicht nur wegen ihres alltäglichen Gebrauchswertes, sondern auch als Prunkstücke herrschaftlicher Schatzkammern geschätzt.
Ein weiterer Diskussionspunkt ist, ob die Sättel als Hochzeits- oder Ehrengeschenke dienten. Insbesondere über ihre mögliche Bedeutung als Geschenk im Rahmen der Aufnahmezeremonie zur sogenannten Drachengesellschaft – einer (hoch)aristokratischen Vereinigung – wird immer wieder spekuliert, da sich auf rund 15 Sattelexemplaren insgesamt etwa 30 Darstellungen von Drachen, darunter einige im Zusammenhang mit dem hl. Georg, finden.

Zur Fundstelle Herrengasse 10

Die archäologischen Befunde der Grabung in der Herrengasse bieten keine näheren Anhaltspunkte zur Herstellungszeit dieser Sattelart zwischen dem späten 14. und dem späten 15. Jahrhundert. Der Zeitpunkt der Entsorgung des Wiener Exemplars hingegen ist aufgrund der Beifunde besser bekannt: die Reste des Sattels wurden in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in die Latrine geschmissen.
Aber von wem und warum? Diese Fragen können leider nicht mit Gewissheit beantwortet werden. Trotz Recherchen in den historischen Quellen lässt sich die Grube 10 keinem bestimmten Haus bzw. dessen Besitzern mit Sicherheit zuordnen. Unter den Hausbesitzern der in Frage kommenden Parzellen befanden sich jedoch auch die Herren von Zelking sowie jene von Starhemberg; Mitglieder beider Familien gehörten 1409 zu jenen österreichischen und steirischen Rittern, die unter Herzog Ernst mit König Sigismund und dessen ungarischen Rittern die Verbrüderung der Drachengesellschaft schlossen – womit eine familiäre Verbindung zur Drachengesellschaft gegeben wäre. Aber auch selbst wenn kein Zusammenhang zwischen dieser Sattelgruppe und der Drachengesellschaft bestanden hat, wären Vertreter dieser beiden Geschlechter zweifellos dennoch eines solchen Prunksattels würdig gewesen. Als mögliche Ursache für die Entsorgung des Sattels zusammen mit dem sonstigen hier geborgenen Hausrat kommen der Erwerb und der Umbau dieses Komplexes 1516 durch Ambros Wisent, den Landuntermarschall der Niederösterreichischen Landstände, in Frage.

Somit lässt sich dieser „Elfenbeinsattel“ zurzeit zwar keinem Besitzer zuordnen, er spiegelt jedoch die prunkvolle Lebensweise der Bewohner der Wiener Herrengasse im 15. Jahrhundert eindrucksvoll wider.
Die ausführliche Publikation dieses Stückes ist in Vorbereitung.