Schicht im Schacht an der Mariahilfer Straße – Leben, Handel und Produktion zwischen Barock und Biedermeier

Autorinnen: Heike Krause, Nadine Geigenberger | Stand: 24. 6. 2021

Das gründerzeitliche Wohngebäude Barnabitengasse 9 und 9A im 6. Wiener Gemeindebezirk liegt ein wenig abseits vom lebhaften Treiben der Mariahilfer Straße. Ehrenhofartig gestaltet, konnte das 1888 von Franz Neumann jun. entworfene, stattliche Mietshaus früher mit einem prächtigen schmiedeeisernen Tor verschlossen werden.
Unlängst erhielt es – wie bereits viele andere Häuser im Umfeld der neuen Trasse der U-Bahn-Linie 2 – statische Ertüchtigungen im Kellergeschoß. Fundamente mussten unterfangen und verstärkt sowie Betonbodenplatten eingebracht werden. Bei der baubegleitenden archäologischen Dokumentation tauchte im Haus 9A ein aufgelassener Ziegelschacht an der westlichen Außenmauer auf, dessen Verfüllschichten jede Menge entsorgten Hausrat enthielten.

Das Haus Barnabitengasse 9–9A im 6. Wiener Gemeindebezirk, Blick nach Südwesten. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Wozu diente dieser Schacht, wann wurde er gebaut? Für die Beantwortung dieser Fragen ist ein Blick in die Zeit vor Errichtung des Hauses erfolgversprechend.

Wohnen, Handeln und Produzieren an der Mariahilfer Straße

Erst aus Plänen der Jahre 1770–1781 wird deutlich, dass das heutige Haus auf dem hinteren, großteils bebauten Areal zweier ehemaliger langgestreckter Parzellen entstand, die einst von der Mariahilfer Straße bis zur Schadekgasse reichten. An ein straßenseitiges Hauptgebäude schlossen jeweils lange, schmale Seitenflügel an, zwischen denen sich ein Hof erstreckte. Der Schacht lag auf dem westlichen Grundstück mit der alten Konskriptionsnummer 16. Der Hof wurde hier durch einen Quertrakt abgeschlossen. Hinter ihm lag ein repräsentatives, dreiflügeliges Gartengebäude, dem wiederum ein zum Wienfluss abfallendes Gartenparterre folgte. Sicherlich lebte es sich darin recht angenehm, und der Blick konnte sich nach Südosten weiten.

Das Haus Nr. 16 im Vogelschauplan von Joseph Daniel von Huber (1769–1773, gedruckt 1778) mit ungefährer Lage des Schachts, Blick nach Westen. (© Wien Museum)

Dieses Gebäudeensemble trug den Schildnamen „Zum grünen Fassl“ und gehörte seit 1764 dem bürgerlichen Handelsmann Peter Lindner, der bis ca. 1794 nachweisbar ist und hier – vielleicht im Gartengebäude – lebte.1 Die Anlage beherbergte ein zur Mariahilfer Straße gelegenes Kaufmannsgewölbe und einige Wohnungen, für die zwecks Vermietung Inserate geschaltet wurden.2
Aus der Überlieferung wird dann ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Nutzung von Gebäudetrakten als Produktionsstätte deutlich. Franz Bartholomäus von Partenau gründete hier eine Spitzen-Manufaktur.3 Hergestellt wurden Textilfabrikate mit heute sehr fremd anmutenden Bezeichnungen: Gespinste, Flinserln (Pailletten), Bouillons, Plasch und „Points d’Espagne“. Dies waren geklöppelte oder genähte Spitzen aus Gold- oder Silberfäden (Lahn, auch leonische Waren genannt).
Spitzen und Borten aller Art waren seinerzeit sehr beliebt. Modische Accessoires oder besondere Bekleidungsstücke wurden damit effektvoll gestaltet. 1839 und 1845 erhielt die „k. k. privil. Gold- und Silberdraht-Fabrik“ bei einer Gewerbs- und Produktenausstellung eine goldene Medaille.4 Noch 1861 existent, wurde sie inzwischen vom Sohn weitergeführt.5 Für die Errichtung der neuen Gründerzeithäuser mussten die alten Gebäude etliche Jahre später weichen.

Die archäologische Dokumentation – Abfall eines bürgerlichen Haushalts

Bauliche Veränderungen an dem Gebäudeensemble dürften mit der Einrichtung dieser Spitzen-Manufaktur einhergegangen sein. Der Nagel-Plan von 1781  zeigte noch eine schmale Lücke zwischen dem Quer- und Gartentrakt, welche im Stadtplan von 1812 aber nicht mehr bestand. Und in dieser einstigen Lücke – an der südwestlichen Außenmauer des heutigen Gebäudes – dürfte der runde Schacht gelegen sein. Er hat einen Innendurchmesser von 1,50 m und war aus Ziegeln erbaut.

Links: Blick in den freigelegten Ziegelschacht Richtung Nordwesten. Rechts: Ein Teil des frisch geborgenen Fundmaterials. (Fotos: Stadtarchäologie Wien/ARDIG – Archäologischer Dienst GesmbH)

Aufgrund dieser Lage und der stratigrafischen Zusammenhänge kann davon ausgegangen werden, dass der Ziegelschacht aus dem 18. Jahrhundert stammt. Mit der Schließung der Baulücke dürfte er außer Betrieb gesetzt worden sein, wobei jede Menge Müll in ihm entsorgt wurde. Unklar bleibt seine ursprüngliche Funktion, da er nicht vollständig bis auf den Grund freigelegt werden konnte.
Aufgrund seines Durchmessers handelte es sich wohl eher um einen Brunnen als um eine Senkgrube. Das geborgene Fundmaterial deutet auf eine Verfüllung vielleicht noch am Ende des 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts hin. Darunter waren mehrere Teile von Tafelgeschirr der k. k. Majolika-Geschirrfabrik in Holitsch (heute Holíč/Slowakei, seinerzeit Oberungarn), das um die Mitte des 18. Jahrhunderts hergestellt wurde.

Holitscher Tafelgeschirr aus der Verfüllung des Schachts. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Reste von Kochtöpfen, einer Godenschale, eines Koppchens und ein vollständig erhaltener Nachttopf waren auch unter den Funden. Das geborgene Glas diente vor allem zur Vorratshaltung. Außerdem fanden sich zahlreiche Essensabfälle. Schweine, Rinder, Schafe/Ziegen und Gänse ließ man sich einst schmecken. Über die Funde, die derzeit noch genauer unter die Lupe genommen werden, wird noch berichtet werden.6

Fragment eines Fayencetellers und einer Tasse sowie ein Nachttopf aus der Verfüllung des Schachts. (Fotos: Stadtarchäologie Wien)

Die geborgenen Keramik- und Glasobjekte datieren einheitlich ins 18. Jahrhundert und stellen wohl Abfall eines bürgerlichen Haushalts – vielleicht des überlieferten Handelsmanns Peter Lindner – dar. Jedenfalls kam es um 1800 zu einem Besitzerwechsel, der Änderungen in der Nutzung und wohl auch am Baubestand zur Folge hatte. Nicht mehr benötigte oder nutzbare Haushaltsgegenstände wurden vermutlich seinerzeit entsorgt. So kam die Schicht in den Schacht. Überreste des vielfältigen Sortiments der „k. k. privil. Gold- und Silberdraht-Fabrik“ kamen durch die Grabungen aber nicht zum Vorschein.
Tief reichende alte Schächte wie vor allem Brunnen stellen für die Tunnel-Vortriebsarbeiten eine spezielle Herausforderung dar. Werden sie angefahren, kann durch den Druck Luft nach oben entweichen und Schäden anrichten. Vonseiten der Projektplanung wurde deshalb beschlossen, das Füllmaterial bis auf knapp 2 Meter unter dem Kellerboden auszugraben und das so entstandene Niveau mit einem Betondeckel zu „verschließen“.

Anmerkungen:

  1. Neuer Calender des Burgerl. Handel-Standes in Wien, auf das Jahr 1771, Wien 1771, S. 48 bzw. Kalender des bürgerlichen Handelsstandes in Wien für das gemeine Jahr […] 1794, Wien 1794, S. 64.
  2. Zum Beispiel: Wiener Zeitung, 14. Juni 1780, [S. 17 rechte Spalte] Neuer Calender des Burgerl. Handel-Standes in Wien, auf das Jahr 1771, Wien 1771, S. 48 bzw. Kalender des bürgerlichen Handelsstandes in Wien für das gemeine Jahr […] 1794, Wien 1794, S. 64.
  3. Zum Beispiel: Handlungs-Gremien Schema der kaiserl. Haupt- und Residenzstadt Wien für das Jahr 1808, verfasst und herausgegeben von Anton Redl, Wien 1808, S. 134.
  4. Adressen-Buch der Handlungs-Gremien, Fabriken und Gewerbe der kais. königl. Residenz- und Reichshauptstadt Wien […], herausgegeben von V. F. Gottfried, Wien 1851, S. 258.
  5. Firmenbuch für den Oesterreichischen Kaiserstaat, herausgegeben von E. Pernold, Wien 1861, S. 148.
  6. Ingeborg Gaisbauer (Keramik), Kinga Tarcsay (Glas) und Sigrid Czeika (Tierknochen) ist für die rasche Erstbestimmung der Objekte zu danken.