Autorin: Heike Krause
Seit einigen Wochen gräbt die Stadtarchäologie Wien auf dem Karlsplatz. Auftraggeber ist diesmal das Wien Museum. Untersucht wird das Areal der künftigen Plaza des neuen Museums. Fachgerecht sind mittlerweile mehr als drei Meter Schicht für Schicht abgetragen worden. Gerade waren mehrere Straßenoberflächen des 19. Jahrhunderts zum Vorschein gekommen. Jetzt geht es weiter in die Tiefe. Gesucht wird das Südufer des Wienflusses, dessen Bett einst unter dem Museumsgebäude lag. Auch Funde aus der Römerzeit oder dem Mittelalter können erwartet werden.
Die ersten baulichen Überreste, die zu Beginn der Grabung gefunden wurden, stammten aber aus den 1920er Jahren. Es handelte sich um die Fundamente der sogenannten Verkaufshallen. Ihre letzten Spuren sind schon vor einem Monat abgetragen worden. Dass hier in der Zwischenkriegszeit 12 Jahre lang ein Einkaufszentrum stand, ist kaum jemandem bekannt gewesen. An dieser Stelle sollte eigentlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Stadtmuseum errichtet werden. Der von Otto Wagner geplante Bau gelangte aufgrund massiver Streitigkeiten und Widerstände aber nicht zur Ausführung. Architekten und Künstler befürchteten, dass das Museumsgebäude der überwältigenden Wirkung der Karlskirche hätte schaden können. Ein Zeitungsartikel von F. Ernst im Neuen Wiener Tagblatt vom 9. März 1922 lobt dagegen die geplante Errichtung „vornehmer“ Verkaufshallen auf dem Karlsplatz und veranschaulicht die Zurückhaltung des Baus gegenüber der Kirche mit einer Grafik. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem daraus folgenden Konjunktureinbruch sollte die Wirtschaft wieder aufgebaut werden. Das bis dahin noch freie Areal bot sich an, um hier in guter Verkehrslage ein großes, weitgehend ebenerdiges, in „Kojen“ unterteiltes Gebäude zu erschaffen, das der Zentralisierung zahlreicher Verkaufsstellen dienen sollte.
Die im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrten Bauakten beinhalten nicht nur Entwürfe, Auswechslungs- und Adaptierungspläne, sondern auch wichtige Schriftstücke, die Einblicke in den Bauprozess und die Nutzung der Verkaufshallen bieten. Schon 1920 hatte der Architekt Robert Kalesa einen ersten Entwurf angefertigt, der in dieser Form aber nicht umgesetzt wurde.
Die Fassade des einstöckigen Eingangsbereichs fiel letztendlich schlichter aus, als ursprünglich vorgesehen. Am 23. August 1921 war der Firma G. Barth & Comp. als Pächterin des der Gemeinde Wien gehörenden Grundes die Baugenehmigung erteilt worden. Die Hallen entstanden an der Stelle des heutigen Museums, nahmen aber eine größere Grundfläche, insgesamt ca. 3000 m2, ein. Nach Fertigstellung sollte das Objekt eigentümlich von der Gemeinde Wien übernommen werden.
Vom 1. Februar bis 28. Juli 1922 dauerten die Bauarbeiten. Anfang Mai fand die Gleichenfeier statt. Die Baukosten hatten sich aufgrund baulicher Mehrleistungen verfünffacht, was durch den Einsatz teurerer Materialien begründet wurde: Statt des Dachpappenteerdachs wurde ein Eternitschieferdach über das ganze Gebäude errichtet und statt des geplanten teilweisen Schiffsbodens und Lehmestrichs im Erdgeschoß durchwegs ein Betonboden ausgeführt. Das zunächst als Provisorium gedachte Einkaufszentrum sollte dann wohl doch für eine etwas längere Zeit nutzbar bleiben.
Das Neue Wiener Tagblatt berichtete am 18. August über die zwei Tage zuvor erfolgte Eröffnung und lobte das „großzügige kaufmännische Etablissement“. Der von einer Mizzi Neumann verfasste Wiener Modebrief im Neuen Wiener Journal vom 22. Oktober 1922 lobt das vielfältige Sortiment. Renommierte Geschäftsleute boten Produkte für den Mittelstand an. So konnten antike Uhren, Textilien, Pelzmäntel, Schlafröcke, Hut- und Schirmmodelle oder Schuhe erworben werden. Die genannten Preise zeugen von der Inflation. Eine warme Trikotbluse in blau-beige war für 270.000 Kronen zu haben. Gepriesen wird das „System der Zentralisierung“, denn das Einkaufszentrum bot ein „geradezu ideales Shopping, sogar für den viel geplagten Berufsmenschen“. Kaum zu glauben, dass dieser Satz vor fast 100 Jahren geschrieben wurde, wirkt er doch topaktuell!
In den Verkaufshallen waren aber auch Automobile und Motorräder ausgestellt. Die 1923 hier nachweisbare Firma Bagra handelte mit „Phänomobilen“, das waren in Zittau hergestellte Dreiradwagen. 1924 war es die Firma Sommaruga, Meyer & Co., die auch motorisierte Morgan-Dreiräder und Motorräder anbot. Die im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrten Betriebsstättengenehmigungen zeugen von einer Fluktuation der eingemieteten Firmen. Verschiedene Automobilhändler zogen ein und aus. Der Absatz der Luxuswaren schien nicht befriedigend gewesen zu sein. Werkstätten wurden nun errichtet und in den Hallen verschiedenste Produkte hergestellt. 1927 hielten eine Mechanikerwerkstatt der Handelsgesellschaft Fa. Pilis & Co. und die Buchdruckerwerkstatt Ignaz Steinmann & Sohn Einzug.
Der Magistrat genehmigte 1927 Veranstaltungen von Heurigenabenden mit Schrammelmusik in den im Mitteltrakt der Hallen befindlichen Gasthauslokalitäten. Der Wirt nannte sein Lokal „Erster Wiener Stadtheuriger“ und lud seine Gäste zu Musik in staubfreien Prachtgärten ein. Doch schon zwei Jahre später musste er schließen. Die Fa. Barth & Co (Inhaber Adalbert Steiner) nutzte die ehemaligen Gasträume für die Erzeugung von Verbandstoffen weiter.
In der Geschichte der Verkaufshallen spiegelt sich ein Stück Geschichte der Zwischenkriegszeit. Mit der Idee eines Einkaufszentrums für exklusive Produkte wurde ein Kontrapunkt zum Programm des Roten Wien mit seiner sozialen Fürsorge und seinem kommunalen Wohnbau gesetzt, der den Bedürfnissen des Mittelstands entgegenkommen sollte. Dieser frühen Shopping Mall war aber kein großer Erfolg beschieden. Der erhoffte Umsatz erfüllte sich nicht. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte letztlich zum Scheitern. Am 29. November 1933 wurde der Abbruch der Verkaufshallen genehmigt. Zwei Fotos sind noch unmittelbar vor der Demolierung ein Jahr später aufgenommen worden.
Kaum zu glauben, dass nach dem Abbruch unter der Erde noch Spuren übrig sein sollten! Doch tatsächlich konnten Martin Mosser und sein Team Überreste finden. Neben dem recht schmalen Betonfundament für das aufgehende Mauerwerk waren es Holzreste von Türschwellen oder Abwasserrohre, die von den Innenhöfen Regenwasser ableiteten. Auf die einst begehrten Luxusgüter wies allerdings nichts mehr hin.
Ein 3D-Modell bewahrt den Zustand der freigelegten Überreste der Verkaufshallen, obwohl diese bereits abgetragen wurden. So ist es möglich, auch jetzt noch jederzeit virtuell über die Grabungsfläche zu gehen.