Steinerne Zeugen erzählen

Autor:innen: Andreas Rohatsch, Constance Litschauer, Michael Raab, Roman Skomorowski, Valerie Strunz, Martin Mosser

Es mag bekannt sein, dass mit Hilfe des Studiums von Mauerwerksstrukturen ein Erkenntnisgewinn möglich ist. Nicht zuletzt liefert die Bauweise wichtige Hinweise auf die zeitliche Stellung eines Gebäudes oder auch auf seine Funktion. Einige Anhaltspunkte bietet aber auch das verwendete Baumaterial, wie eine unlängst aus einer Mauer entnommene Gesteinsprobe zeigt.

Bei der Auswechslung von Wasserleitungen konnte das Team der Stadtarchäologie Wien in der Walfischgasse (Wien 1), die teilweise noch der Krümmung der um 1200 entstandenen Ringmauer folgt, Reste des einstigen Kärntner Turms freilegen.

Der Kärntner Turm

Das im Bereich der Walfischgasse 2 lokalisierbare Bauwerk diente ab 1200 dem Deckungsschutz des angrenzenden – alten – Kärntner Tors. Zudem war in dem mehrgeschoßigen, erstmals 1296 erwähnten Turm vom 13. bis zum 16. Jahrhundert das Stadtgefängnis untergebracht. Bei den in seiner Nähe stattfindenden, am 14. Oktober 1529 erfolgreich zurückgeschlagenen letzten Angriffen der Osmanen wurde der Turm schwer beschädigt und zunächst wiederaufgebaut. Wann genau der Kärntner Turm endgültig demoliert wurde, kann aufgrund unterschiedlicher Angaben nicht genau gesagt werden. Die letzten Reste verschwanden wohl im Jahr 1671 im Zuge der Errichtung des neuen Kärntner Tors bzw. möglicherweise auch erst bei einer großflächigen Schaden anrichtenden Pulverexplosion 1752.

Der Kärntner Turm in der 1530 entstandenen Rundansicht Wiens (Ausschnitt) von Niklas Meldemann. (Wien Museum / Repro: Birgit u. Peter Kainz)

Die Gesteinsprobe

Der aufgedeckten südlichen Außenmauer des Turms aus lagerhaft verlegten, grob zugehauenen Bruchsteinen wurde auch eine Gesteinsprobe entnommen, die uns – genauer unter die Lupe genommen – interessante Informationen liefert.

Die in der Walfischgasse aufgedeckten Reste der Außenmauer des mittelalterlichen Kärntner Turms. Rot markiert ist die entnommene Gesteinsprobe. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Für einen Experten leicht erkennbar, handelt es sich um sog. Kalkarenit, einen Kalkstein. Sein optisches, auf die klastische Zusammensetzung aus Geröll zurückgehendes Erscheinungsbild führte früher allerdings dazu, dass man ihn gerne als Kalksandstein bezeichnete.

Die dem Kärntner Tor entnommene Gesteinsprobe und der ideale Querschnitt eines Atzgersdorfer Steines. (Fotos: Andreas Rohatsch)

Charakteristisch sind Steinkerne von cerithiden Gastropoden – vulgo Schnecken – sowie einzelne grünliche Quarzsandsteingerölle. Letztere stammen vermutlich aus der Gosau-Formation der Nördlichen Kalkalpen und legen damit eine Herkunft südlich von Wien nahe. Steinbrüche fanden sich hier im Gebiet von Hietzing – Hetzendorf, zwischen Rosenhügel – Atzgersdorf und schließlich in Atzgersdorf, Wien Liesing selbst. Von dort dürfte auch das beprobte Material stammen, womit es allgemein gebräuchlich als Atzgersdorfer Stein angesprochen werden kann. Geologisch entstammt er der hauptsächlich durch Sande, Kalk(sand)steine und Tonmergel geprägten Skalica-Formation und datiert ins Ober-Sarmatium des Miozäns, was in etwa einem Alter von rund 12 Millionen Jahren entspricht.

Die spärlichen Überreste des Steinbruchareals im Bereich des Robinsonwegs in Wien-Liesing. (Fotos: Beatrix Moshammer)

Verwendung von Atzgersdorfer Steinen als Baumaterial

Belege für seine Verwendung als Baumaterial finden sich vor allem in Form von Bruchsteinen. Sie wurden zumeist im Fundamentbereich oder gerne auch in der Füllung eines Schalenmauerwerks verbaut. Die Bauweise in Form zweier Schalen mit qualitativ ansprechenden Außenseiten und einer Füllung aus regellosem Material ist beispielsweise typisch für Befestigungen, wie unsere Stadtmauern. Seltener wurden Quader und vereinzelt auch Bauplastiken aus Atzgersdorfer Stein hergestellt. Die Verwendung dieses Rohmaterials lässt dabei ganz klar zeitliche Unterschiede erkennen, die in erster Linie mit der Nutzung der Steinbrüche im Zusammenhang stehen.

Von den Römern wenig geschätzt, …

Eine noch untergeordnete Rolle dürfte dieses Baumaterial in der römischen Kaiserzeit gespielt haben. Man bevorzugte calcitisch zementierte Quarzsandsteine des Unter–Sarmatiums der Holic-Formation aus der Gegend des Türkenschanzparks im 19. Bezirk, Sieveringer Flyschsandsteine aus dem Gspöttgraben im Wienerwald und Leithakalkbrekzien aus Perchtoldsdorf – Maria Enzersdorf.  Die Atzgersdorfer Steine wurden zumindest nachweislich für den Bau von Wasserleitungen verwendet, etwa bei dem Streckenabschnitt am Rosenhügel. Hier war wohl die Nähe zum Steinbruch ausschlaggebend.

Die römerzeitliche Wasserleitung am Rosenhügel bei ihrer Entdeckung im Jahr 1903 sowie ein im Wien Museum ausgestelltes Teilstück derselben. (Fotos: Wien Museum)

Aber auch sonst sind die Verwendungsbelege für diese Zeit dürftig. Erwähnt werden muss an dieser Stelle vor allem ein 1843/44 in einem Brunnen in Schwechat – dem antiken Ala Nova – gefundener gallienischer Meilenstein, der zwischen 256 und 258 n. Chr. datiert werden kann. Zuletzt wurden Atzgersdorfer Steine in einem Bruchsteinmauerfundament eines Gebäudes der canabae legionis – im Zuge einer 2023 durchgeführten Künettengrabung am Kohlmarkt (Wien 1) – entdeckt.

Ein – wie es die Probe zeigt – auch aus Atzgersdorfer Steinen errichtetes römerzeitliches Fundament unter dem heutigen Kohlmarkt. (Fotos: Stadtarchäologie Wien)

… ab dem Mittelalter vielfach genutzt

Anders sieht es mit der Verwendung ab dem Mittelalter aus. Der Atzgersdorfer Stein wurde im 14. und 15. Jahrhundert zunehmend nicht nur zum wichtigsten Baumaterial im Fundamentbereich – wie das Beispiel Kärntner Turm zeigt –, sondern kam auch im aufgehenden, ansichtigen Mauerwerk zum Einsatz.

Wer sein neu gewonnenes Wissen jetzt auch anwenden will, kann dies beispielsweise beim Stephansdom im Bereich des Albertinischen Chors, des Langhauses und Nordturms versuchen, bei der Kirche Maria am Gestade im Bereich der Westfassade und des Chors, oder auch bei den Chören von der Kirche Am Hof, Michaelerkirche und der Burgkapelle.

Ausschnitt der auch aus dem fossilreichen Atzgersdorfer Stein errichteten Südfassade der Kirche Maria am Gestade mit dem Südportal. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Nachdem ab dem frühen 15. Jahrhundert allerdings zunehmend Leithakalke aus dem Leithagebirge, vor allem aus Mannersdorf und Au/Leithagebirge, die Verwendung des lokalen Baumaterials in Wien ablösten, beschränkte sich der Einsatz von Atzgersdorfer Steinen vor allem auf den Fundamentbereich in Form von Bruchsteinen.

Abschließend darf in diesem Zusammenhang nicht die Erwähnung der 1873 eröffneten Ersten Wiener Hochquellenleitung fehlen, die ein prominentes jüngeres Beispiel für die Verwendung dieses lokalen Baumaterials darstellt.