Schau mir in die Augen, Kleines

Autorin: Christine Ranseder

In der Werdertorgasse ist es uns gelungen, den edelsten Teil einer Dame zu finden: ihren Kopf. Keine Sorge: Es handelt sich nicht um ein menschliches Relikt, sondern das Haupt einer kleinen Statuette aus Ton. Diese werden nach der Kopfbedeckung, deren Falten das Gesicht umrahmen, Kruselerfigürchen genannt.

Kopf einer Kruselerfigur. Der Körper wurde auf Basis eines Vergleichsfundes aus Nürnberg zeichnerisch ergänzt. (Foto und Zeichnung: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Im Mittelalter wurde von verheirateten Frauen verlangt, dass sie ihr Haar vollständig verbergen. Erst um 1500 begann das Gebot der Verschleierung langsam seine Gültigkeit zu verlieren.  Zunächst ließen Frauen ihr Haar nur an den Schläfen unter Hauben hervorlugen. Ab dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts ersetzten sie die Haube durch das Barett und gaben den Blick auf das zu einem Zopf gebundene Haar frei. Aber ich schweife ab.

Der Kruseler war von der Mitte des 14. bis in das erste Drittel des 15. Jahrhunderts im Mode. In einer Kleiderordnung der Stadt Speyer, Deutschland, aus dem Jahr 1356 wird er zu den Schleiern gezählt. Anhand der Bildquellen können drei unterschiedliche Ausprägungen des Kopfputzes unterschieden werden. Typisch sind jedoch immer Rüschen, die zumindest eine Kante des Tuches schmückten. Kombinierte die Trägerin mehrere Tücher, ließ sich ein mächtiger Rüschenwulst formen.

Ob die Dimension der Kopfbedeckung in der Realität ebenso gigantische Ausmaße annahm, wie an unseren Fund, sei dahingestellt. Der Datierungsrahmen für die Tonfiguren entspricht jedenfalls jener des Kruselers. Eine Frage drängt sich natürlich auf: Hatte die Kleinplastik auch eine Funktion? Nun ja, Nippes wird sie wohl nicht gewesen sein, so weit war man zu dieser Zeit noch nicht. Die nach der letzten Mode gekleideten Damen aus Ton dürften als Spielzeug gedient haben. Überspitzt formuliert: Sie waren die Barbie-Puppen des Spätmittelalters. Und wie diese spiegelten auch sie aktuelle Trends, in ihrem Fall vor allem in der Ausgestaltung der Kopfbedeckungen – von der einfachsten Form des Kruselers bis zum zweiteiligen, das Kinn bedeckenden Risenkruseler.

Übrigends: Unsere Dame ist eine Einwanderin. Hergestellt wurden die Kruselerfigürchen nämlich in Nürnberg und Umgebung. Als Handelsware gelangten sie die Donau abwärts bis nach Ungarn. Für Wien ist der Fund aus der Werdertorgasse 6 allerdings der erste Nachweis.