Autorin: Christine Ranseder
Nicht nur an den Rocklängen, auch an den Schuhspitzen lassen sich Modetrends ablesen. Im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert waren spitze Zehenpartien der letzte Schrei. In ihrer extremsten Ausführung konnten die Schuhspitzen der flach geschnittenen Schnabelschuhe („poulaines“) eine Länge von 10 cm erreichen. In die lächerlich lange Zehenpartie wurde Moos, Haar etc. gestopft, um sie in Form zu bringen. Zusätzlichen Halt verliehen hölzerne Unterschuhe, sog. Trippen. Praktisch waren diese Schuhe natürlich nicht. Kein Wunder also, dass sie vor allem bei Angehörigen der gesellschaftlichen Oberschicht beliebt waren. Schließlich musste man ja zeigen, dass man etwas Besseres war und es nicht nötig hatte, körperlich zu arbeiten. Das war man sich wert. Und was machte die weniger privilegierte Bevölkerung? Richtig, sie kaufte Schuhe mit weitaus kürzeren Zipfeln an den Schuhspitzen und träumte von einem besseren Leben.
Auch an den Bewohnern des spätmittelalterlichen Wiens, das nun wirklich nicht als Hotspot für Mode und innovatives Design angesehen werden kann, ging dieser Trend nicht spurlos vorbei. Das beweist ein Fund aus der Werdertorgasse. Der Schuh mit deutlich verlängerter, spitzer Zehenpartie dürfte topmodisch, aber nicht extrem geformt gewesen sein. So genau lässt sich das derzeit nicht sagen, denn der Schuh befindet sich noch in verschmutztem, nicht konserviertem Zustand. Doch einiges an Information kann dem modischen Schuhwerk dennoch entlockt werden.
Gleich vorweg: Es gibt keinen Grund anzunehmen, es handle sich um einen Damenschuh. Derartige Fußbekleidung wurde von Männern, Frauen und Jugendlichen beiderlei Geschlechts getragen. Sogar Kinder bekamen von modebewussten Eltern gezipfelte Schuhe verpasst. Eitelkeit und die Lust, sich modisch zu kleiden, sind geschlechtsneutral.
Es handelt sich bei unserem Fund um einen tief ausgeschnittenen Lederschuh mit niederen Seitenteilen, der mit einem Riemen über dem Rist geschlossen wurde. Die ursprünglich wahrscheinlich vorhandene kleine Schnalle aus Metall war vor seiner Entsorgung entfernt worden. Wie alle mittelalterlichen Schuhe ist auch dieses Exemplar wendegenäht. Das heißt man befestigte die Bestandteile des Schuhs mit der Fleischseite nach außen am Leisten, nähte sie zusammen und wendete den Schuh, sodass die Sohle und Oberleder verbindende Naht in seinem Inneren zu liegen kam. Da man die Schuhe wie eine Socke umdrehte, musste auch das Leder der Sohlen dünn und biegsam sein. Zu Schonung der Lauffläche erfolgte daher meist eine Nachbesohlung mit separaten Vorder- und Hinterflecken, die an unserem Fund nicht nachgewiesen werden kann.
Den Verschleiß der mit dem Boden in Kontakt kommenden Stellen des Oberleders verzögerte ein in die Bestechnaht integrierter Sohlenstreifen. Dabei handelt es sich um einen schmalen Lederstreifen, welcher der Kontur der Sohle folgt. Reste von ihm hafteten noch am Schuh, bzw. lagen lose im Fundsackerl.
Lederreste in Hülle und Fülle
Dass im Bereich des Werdertores eine große Menge an Schuhen, Sohlen und ledernem Produktionsabfall entsorgt wurde, überrascht nicht weiter. Westlich des Werdertores bis zur Elendbastion erstreckte sich stadtseitig bereits im 14. Jahrhundert ein Gebiet, in dem mit Leder befasste Handwerker – Schuster, Refler (Flickschuster), Kürschner – sowie Schneider und Weber ansässig waren. Im Abgabenregister des Schottenklosters scheint 1314 die Bezeichnung „in der Leder ekke“ auf. In den Urbaren des Schottenstiftes aus den Jahren 1376 und 1390 wird als Standort für Häuser, die der mittelalterlichen Stadtmauer gegenüber standen, „in dem Lederekk“ vermerkt. 1547 ist der Name für ein Gässchen in Verlängerung der Renngasse belegt. Ein Großteil der Häuser zwischen Werdertor und Judenturm sowie der ihnen gegenüber liegende Abschnitt der Ringmauer wurden 1558 abgerissen, um Platz für das Arsenal zu gewinnen.
Außerhalb der Stadtmauer vor dem Werdertor werden in den mittelalterlichen Quellen häufig Lederer (Lohgerber) genannt. Auch Sohlenschneider und ein Schuster finden Erwähnung. Weiter weg, im „oberen Werd“, gingen – unter anderen – ebenfalls Lederer ihrem, extremen Gestank verbreitenden Gewerbe nach. Lohgerber stellten unter Verwendung von Gerberlohe (fein gemahlene Rinde, die Tannin enthält) aus Rinderhäuten robustes, wenig elastisches Leder her. Sie bedurften zur Ausübung ihrer Tätigkeit eines fließenden Gewässers. Die genaue Lage ihrer Arbeitsstätten konnte jedoch trotz einer in den Schriftquellen aufscheinenden Ortsbezeichnung „under den Lederern“ bisher ebensowenig festgestellt werden wie Größe und Ausstattung der Betriebe.