Autorin: Ingeborg Gaisbauer
Der Teufel lauert bekanntlich immer im Dickicht – pardon: Detail. So auch hier. Hier? Das heißt in diesem Fall: das keramische Fundmaterial der Ausgrabung Hernalser Hauptstraße 59–63. Der Teufel? Zwei unscheinbare kleine Randfragmente – unter uns gesagt: etwas unattraktiv – jedenfalls verglichen mit anderen Objekten aus dieser Grabung, die wir Ihnen auf Grund ihrer relativen Schönheit in Folge noch präsentieren werden. Aufgrund der Größe und des Einzelgängerstatus jedenfalls waren die beiden kleinen Kerlchen zwischen römischen Altstücken und spätmittelalterlicher Keramik gut versteckt und leicht zu übersehen. Es bedurfte schon altmodischer, mittlerweile etwas unpopulär gewordener Grundlagenarbeit (stures und penibles Sichten aller Stücke), um sie zu enttarnen. Keine Sorge, das wird nicht (nur) ein Plädoyer für den Einzelscherben, das Ernstnehmen von (auch kleinen) Funden. Ich habe tatsächlich auch eine Geschichte zu erzählen.
Also, es war einmal ein römischer Ziegelofen. Stillgelegt seit dem 3. Jh. dämmerte, ruhte – oder was auch immer verlassene Öfen so tun, wenn das Feuer aus ist – er bis ins späte 8./frühe 9. Jh. Da wurde es auf einmal wieder leichenhaft lebhaft. Der Ofen wurde zum Grabgewölbe, die Arbeitsgrube davor mehr oder weniger zur Grabgrube umfunktioniert. Vor dem Ofen bestattete man eine Frau, im Ofen einen sehr jungen Mann. Eine dritte Bestattung – zu stark gestört für Einzelheiten – wird angenommen. Eine einigermaßen einzigartige, etwas exquisite Situation, zumal man der Frau auch noch einen Stein in die rechte Augenhöhle drückte und einen entsprechend großen weiteren Stein direkt auf die Brust legte. Angst vor unerwünschten Auferstehungsaktionen? Möglich, aber nicht erwiesen. Die Sorge, dass mehr oder weniger friedlich Entschlafene nicht unbedingt immer „unten bleiben“, soll schon recht alt sein – Bram Stoker ist da nur ein spätes Glied in einer langen Kette.
Auf jeden Fall eine jener Situationen, die zwar nicht Geschichte schreiben, aber dazu angetan sind, Geschichten und Spekulationen hervorzubringen. Viele Details bleiben unklar. Wann wurde das angenommene dritte Grab zerstört? Wie sind die schlechten Erhaltungsbedingungen im Ofen selbst zu erklären, die die Knochen des jungen Mannes oberhalb des Beckens in ein unkenntliches Einerlei verwandelten? Lag es an einem „Leichentuch“ oder an der Oberbekleidung? Nicht einmal eine spätere Beraubung, die Unordnung mit sich brachte, kann ganz ausgeschlossen werden.
Aber lösen wir uns einmal vom Tod und fragen nach dem Leben. Wer waren diese Leute, bzw. ihre Angehörigen? Wo kamen sie her? Waren sie hier sesshaft oder vielleicht nur auf der Durchreise, in einer bestattungstechnischen Notlage, aus der sie durch den stillen Ofen erlöst wurden? Fast in jedem Punkt muss es hier leider heißen: fragen Sie beim Salzamt nach, dass es zu der Zeit sicher noch nicht gegeben hat (das zumindest dürfen wir als gegeben annehmen).
Eine Siedlung aus dieser Zeit ist im Wiener Raum überhaupt nicht nachgewiesen, um eine Wanderbewegung nachzuweisen, geben die Funde zu wenig Information her. Beigaben wie die des jungen Mannes (ein Eimer, ein Topf) finden sich bis zum Plattensee vertreten. Was bräuchte es also um der Lebenswelt dieser im Tode so beachtlich behausten Leute näher zu kommen? Richtig, Sie haben es erraten – hier kommt der Detailteufel ins Spiel. Bereits das Feststellen eines Scherbenschleiers im weiteren Umfeld kann helfen, Aktivitätszonen und Zugrichtungen zu untersuchen. Ich für meinen Teil liege seit der Ausgrabung der Toten in der Steinergasse auf der Lauer – Keramikbearbeiter haben auch so ihre diabolischen Züge – und warte, ob Funde aus dieser Zeit irgendwo entlang der alten römischen Ausfallsroute Hernalser Hauptstraße und Umgebung herauskommen. Damit würde die sehr vernünftige Annahme, dass diese Routen immer noch begangen wurden, gekräftigt werden.
Was haben nun zwei Scherben mit einem Scherbenschleier zu tun? Nun, Sie kennen sicher das Sprichwort von der langen Reise, die mit einem Schritt anfängt? Jeder Scherben ist in diesem Fall hilfreich, immerhin dürfen Sie sich aus dieser dünn besiedelten Zeit ohne keramische Massenproduktion an sich keinen Überschwang an Objekten erwarten. Bedenkt man dann noch die jahrhundertelangen Überformungen vom Mittelalter bis in die Neuzeit, die das Material vermutlich kreuz und quer durch die Gegend vertragen haben, kommen wir nicht nur dem (dünnen) Schleiergleichnis gleich näher. Es zeigt sich auch nur zu deutlich der Wert jedes einzelnen kleinen Fragments, der Informationsverlust, wenn es nicht erfasst und bewertet wird. Letztendlich ist die Vorstellung von den Römerstraßen, die vermutlich auch noch ungewartet und verwahrlost, von Reisenden bevorzugt, durch die Jahrhunderte führten reizvoll, aber eben vor allem eine Theorie. Wenn wir allerdings weiterhin entlang der Hernalser Haupstraße fragile und ach so schnell verwehte (weniger poetisch ausgedrückt: im Rahmen der modernen Stadtentwicklung und des Baugeschehens unbemerkt zerstörte) Spuren des späten 8./frühen 9. Jhs. finden, dann verfestigt sich vielleicht wirklich das Bild der durchziehenden und entlang der alten Straßen siedelnden Bevölkerungsgruppen. Immerhin war es sicher gemütlicher der römischen Trasse zu folgen, als sich durchs Unterholz zu schlagen – womit wir wieder bei dem eingangs zitierten Hohlweg wären. Ich kann Sie in diesem Punkt allerdings gleich beruhigen: Hinweise auf Rachetragödien, Überfälle und ähnliches ließen sich auch mit deutlich mehr Scherben – die sind bekanntlich nur für Archäologen ab und zu bedrohlich – nicht diagnostizieren. Ohne Überreste von Pfeil-technischen Scharfschützenübungen, dürfen wir vorläufig vom leidlich friedlichen Existieren und Passieren in dieser Gegend ausgehen.