Autorin: Christine Ranseder
Der Grabung im Bereich der Hernalser Hauptstraße 59–63 (Wien 17) sind nicht nur interessante Funde sondern auch überraschende Befunde zu verdanken. Bei der Sichtung der Grabungsdokumentation – darunter hunderte Fotos – fielen mir vier Gefäße auf, die aufrecht stehend sorgfältig in das Erdreich eingegraben waren. Zwei von ihnen befanden sich in Begleitung eines Deckels, die anderen beiden standen einsam umher. Mit Abfall wird normalerweise sorgloser umgegangen, es fand also eine wohlüberlegte Deponierung statt. So weit so gut, doch warum waren die Gefäße – abgesehen von dem im Lauf der Zeit hineingerieselten Erdreich – leer?
Der Griff zum Fundprotokoll bestätigte: gähnende archäologische Fundleere – keine einzige Münze, kein einziger Knochen im Inneren der Gefäße. Ihr Inhalt, mit Sicherheit organisches Material, musste durch die jahrhundertelange Bodenlagerung spurlos vergangen sein – daher die vermeintliche Leere.
Ausrangiertes Küchengeschirr
Werfen wir als nächstes einen Blick auf die Gefäße. Bei diesen handelt es sich ausschließlich um Töpfe mit einem Henkel, also um typisches Küchengeschirr. Das älteste Exemplar kann frühestens in das 15. Jahrhundert datiert werden, das jüngste stammt aus dem 17. Jahrhundert. Keiner der Funde war zum Zeitpunkt als er in den Boden kam neuwertig. Schmauchspuren auf den beiden oxidierend gebrannten, innen glasierten Töpfen deuten darauf hin, dass sie ursprünglich intensiv am Herd zum Einsatz gekommen waren. Der kleinste, mit feinen Rillen verzierte Topf war bei seiner Auffindung noch mit einem umgedreht aufgelegten Deckel abgedeckt. Der schlanke Topf verfügte ebenfalls über einen Deckel, dessen Rand war jedoch bereits durch das Gewicht des auf ihm lastenden Erdreichs abgebrochen und sein Mittelstück in das Innere des Gefäßes gedrückt worden. Beide Deckel passen eigentlich nicht zu den Töpfen, die sie verschlossen. Vermutlich waren auch die zwei reduzierend gebrannten Töpfe mit Deckeln vergraben worden. Ein Topf war noch intakt und es fand sich im Fundmaterial aus seiner Nähe auch ein Deckel, der andere hatte durch Bautätigkeiten auf der Parzelle seinen Rand und vermutlich auch den Deckel eingebüßt.
Aber warum vergrub jemand altes Küchengeschirr, gefüllt mit einer organischen Substanz? Vielleicht verrät der Standort der Töpfe etwas.
Bis zur Eingemeindung nach Wien 1890/92 war Hernals ein eigenständiger Ort. Die meisten Häuser befanden sich südlich des Alsbaches und standen direkt an der heutigen Hernalser Hauptstraße. Die langgesteckten Grundstücke erlaubten es, zwischen dem straßenseitigen Haus und dem zugehörigen Garten Nebengebäude zu errichten, die einen Hof umschlossen. Zwei der vergrabenen Töpfe wurden in Kellern solcher Nebengebäude gefunden. Zwei weitere waren dicht beieinander knapp außerhalb von deren Mauern, vermutlich im ehemaligen Hof, vergraben worden. Die Deponierung konnte also vor neugierigen Blicken geschützt erfolgen.
Nachgeburtsbestattungen?
Vergleichbare Befunde sind aus Deutschland, in besonders großer Zahl aus Baden-Württemberg, bekannt geworden. Die abgedeckten Töpfe waren zumeist in Kellern, unter den Fußböden von Wirtschaftsgebäuden, außerhalb von Gebäuden an Mauern oder im Hof vergraben worden. Die biochemische Analyse des Inhaltes einiger Gefäße aus einem Keller in Bodelshausen, Baden-Württemberg, erbrachte den eindeutigen Nachweis, dass sich in ihnen einst Nachgeburten befanden.
Der Plazenta wurde – und wird – weltweit in vielen Kulturen besondere Bedeutung beigemessen. Der Umgang mit ihr folgt meist bestimmten Regeln, die in der Vergangenheit stark von Aberglauben geprägt waren. Es liegt daher nahe, auch die in Hernals irgendwann im 16./17. Jahrhundert vergrabenen Töpfe mit Nachgeburtsbestattungen in Verbindung zu bringen. Die Entsorgung der Nachgeburt ist an sich ein religionsübergreifendes Phänomen. Die Verteilung der Fundstellen in Baden-Württemberg veranlasste jedoch Dorothee Ade und Beate Schmidt für diesen Raum zu der Annahme, dass das Vergraben der Plazenta vor allem in protestantischen Gemeinden üblich war. Nun erblühte Hernals unter der Familie der Jörger in den Jahren zwischen 1587 und 1620, als die Gegenreformation einsetzte, zu einem Zentrum des Protestantismus im Wiener Raum. Ein Zufall?
Zum Schutz von Mutter und Kind
Welche Vorstellungen stecken hinter dem Bedürfnis, die Nachgeburt zu vergraben – oder am Dachboden zu verstecken, in fließende Gewässer zu werfen …? Die Gefühle, die der Plazenta entgegengebracht wurden, waren ambivalent. Zum einen wurden dem Mutterkuchen positive Kräfte zugeschrieben. Dies führte zu seiner Verwendung als Bestandteil von Heilmitteln. Zum anderen bereitete die enge Verbindung der Nachgeburt mit Mutter und Kind den Menschen aber auch Sorgen. Aus Angst, eine Hexe könnte sich der Nachgeburt bemächtigen und aus ihr einen Wechselbalg heranziehen, wollte man die Plazenta nicht einfach achtlos wegwerfen, sondern sie im Umfeld der Familie sicher verwahrt – oder durch Verbrennen gänzlich vernichtet – wissen. Heute verwundert uns dieser Volksaberglaube. Doch die Suche im Internet enthüllt: das hoffnungsvolle Vertrauen auf die in der Plazenta enthaltenen Wirkstoffe als Zutat zu Heilmitteln und Produkten der Kosmetikindustrie erfährt eine Wiedergeburt.
Mehr zur Geschichte von Hernals können Sie in übrigens unserem Buch nachlesen:
Heike Krause/Martin Mosser/Christine Ranseder/Ingeborg Gaisbauer/Sylvia Sakl-Oberthaler
Hernals. Die archäologischen Ausgrabungen
Wien Archäologisch 12 (Wien 2016)
22 x 14 cm. Broschur.
136 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
EUR 21,90.
ISBN 978-3-85161-153-3