Maßwerkfieber

Autorin: Christine Ranseder

Filigrane geometrische Muster in Durchbruchsarbeit, das so genannte Maßwerk, waren in der Gotik des Handwerkers liebste Zier. In der Architektur spielte Maßwerk eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung von Fenstern – nicht nur als Schmuck, sondern auch als konstruktionstechnisches Hilfsmittel, um das Fensterglas zu halten und dem Winddruck zu trotzen. Doch weil es so schön ist und dem damaligen Zeitgeschmack entsprach, kam es auch für Altäre, Möbel, Schmuck und Kachelöfen zum Einsatz. Fall Sie noch immer rätseln: Das eigenartige Ding auf dem Foto ist ein Bruchstück von einer Ofenkachel mit bescheidenem Maßwerk.

Der kümmerliche Rest eines sicher prächtigen Kachelofens des 15. Jahrhunderts wurde am Judenplatz, Wien 1, gefunden. Eine prestigeträchtige Adresse also. Wer sich das gute Stück einst leistete, wird allerdings für immer ins Dunkel der Geschichte gehüllt bleiben.
Eines ist zumindest sicher: der Töpfer war ehrgeizig. Die grün glasierte Schauseite des kleinen Bruchstücks gibt sich plastisch. Die kleine „Zacke“ ist tatsächlich dreidimensional geformt, wie ein Blick auf die Rückseite bestätigt. Und noch etwas fällt auf: Das Maßwerk wurde direkt auf die Wandfläche des Kachelkörpers angesetzt und nicht als modelgepresstes Vorsatzblatt an der Vorderkante angebracht.
Sehen wir uns das Ding einmal von der Seite an.

Ein Kachelfragment mit Maßwerk, gefunden am Judenplatz, Wien 1. Aufsicht und Seitenansicht. (Foto: Stadtarchäologie Wien, Christine Ranseder)

Schwebte dem kreativen Handwerker gar eine maßwerkverzierte Nischenkachel als Vorbild vor Augen? Die Kontur der Kachelwand spricht dagegen. So gerade, wie sie ist, weist sie entweder auf die Form einer Dreieckskachel oder einer Schüsselkachel hin. So weit, so gut. Das sagt aber noch immer nicht viel darüber aus, wie die vollständige Ofenkachel ausgesehen haben könnte. Sie merken schon, Archäologie ist die Wissenschaft der Konjunktive, solange keine unversehrte Entsprechung aus dem Hut gezaubert werden kann.

Nun gut, da der Vergleich angeblich sicher macht: Auf, auf zur zeichnerischen Rekonstruktion! Es gibt keinen besseren Weg um Möglichkeiten durchzuspielen. Da ich nun einmal üppige Ornamente mag, ging ich zunächst aufs Ganze und versuchte eine Rekonstruktion als Dreieckskachel der Superklasse in Anlehnung an einen Fund aus Budapest. Fehlschlag, aufgrund des Ignorierens der Größenverhältnisse. Eine derartige Monsterkachel – der kleine grüne Fleck in der Zeichnung links unten ist unser Bruchstück – mag der (Alb-)traum eines Ofenbauers sein, realistisch ist sie für das Spätmittelalter nicht.

Rekonstruktionsversuch Nr. 1 in Anlehnung an eine Dreieckskachel im Budapester Burgmuseum. Wohl kaum, da viel zu groß. Aber ein netter Ausflug ins Reich der Fantasie. (Foto/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien, Christine Ranseder)

Das Schöne am Maßwerk ist, dass es auf geometrischen Prinzipien beruht. Also specken wir die Rekonstruktionszeichnung ab. Sieht doch schon besser aus!

Rekonstruktionsversuch Nr. 2. Bescheidenheit ist eine Zier, auch für eine Dreieckskachel. (Foto/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien, Christine Ranseder)

Oder wäre doch eine quadratische Schüsselkachel hübscher?

Rekonstruktion Nr. 3 als Schüsselkachel. Quadratisch, praktisch, gut. (Foto/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien, Christine Ranseder)

Ach, die Qual der Wahl! Da eine Zeitreise zur Überprüfung des Gedankenexperiments noch immer keine Option ist, lassen Sie mich zur Kernaussage zurückkehren: Das Bruchstück stammt von einer Ofenkachel mit Maßwerk.