Autorin: Ingeborg Gaisbauer
Es war einmal vor langer, langer Zeit …
… ein Fürst, eine Burg und ein aufgelassenes Legionslager. Das ist der Stoff für … nun zumindest für drittklassige historische Romane (inkl. Drehbuchvorlage und schlechte filmische Umsetzung). Man könnte auch anders und etwas wissenschaftlicher anfangen und sagen: Kinder brauchen Märchen (frei nach Bruno Bettelheim) … und Erwachsene brauchen Mythen. Gründungsmythen, Selbstbestätigungsmythen und vor allem die „wir sind immer schon groß, schön und mächtig gewesen“ Mythen. Vor allem für Letztere sind wir (auch, oder gerade in Wien) sehr anfällig.
Wo will ich nun hin mit diesem chaotisch-epischen Anfang? Ganz eindeutig ins Mittelalter. Von Wiens römischem Vorleben haben Sie nun schon einiges zu sehen bekommen, jetzt geht es weiter in Richtung mittelalterliches Wien, hinein in einen Zwiespalt zwischen Märchenstunde und archäologischer Ernüchterung, verpassten Forschungsgelegenheiten und Hoffnungen für die archäologische Zukunft, ein Zwiespalt der sich nur schrittweise bewältigen lässt. Bevor wir die anfangs zitierte Geschichte – bereits tief im Frühmittelalter – genauer beleuchten, müssen wir zurück an den Anfang, oder besser ans Ende (das römische nämlich). Und am besten exorzieren wir zu Beginn einige Klischees, die sich zwischen Römern und mittelalterlicher Stadt festgesetzt haben.
Wien war immer besiedelt!?
Versteigt man sich als besserwisserischer Archäologe dazu, eine durchgehende Besiedlung Wiens nach den Römern zu verneinen, lässt die Kritik nicht lange auf sich warten. Wie kann solch ein günstiger Standort im Wiener Becken auch nur zeitweise unbesiedelt gewesen sein? Lassen Sie uns die Spielregeln fixieren: Wien im heutigen Sinne ist ein „Produkt“ des 19. Jahrhunderts. Natürlich ist es sinnvoll, den heutigen Großraum Wien in die Überlegungen zur mittelalterlichen Siedlungsentwicklung in Ostösterreich miteinzubeziehen. Ist es aber das mittelalterliche und frühneuzeitliche Wien, um das es uns geht, so handelt es sich um die Fläche des heutigen 1. Bezirks, mit der wir arbeiten müssen.
Also: Sprechen wir über Besiedlung nach den Römern und im frühen Mittelalter auf der Fläche des heutigen Wiens? Hat es vermutlich gegeben. Sprechen wir über Besiedlung in den römischen Überresten im heutigen 1. Bezirk zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert, die strategisch an den „römischen Gedanken“ anschließt und auf eine mittelalterliche Stadtwerdung hinzielt? Eine solche Siedlungstätigkeit durchgehend und in einem auch nur annähernd nennenswerten Rahmen nachzuweisen ist uns bislang nicht gelungen. Falls das unklar war: ein schlichtes „Nein, gab es nicht“ klingt für manche zu unwissenschaftlich. Das eine oder andere Intermezzo und/oder sehr niederschwellige Aktivitäten entziehen sich dem Archäologen im verbauten Gebiet gerne, aber ganz ehrlich: zählen zwei, drei ärmliche Hütten mit bestenfalls dörflichem Ehrgeiz, die möglicherweise schneller wieder aufgegeben als gebaut wurden, für Sie als Siedlung mit urbanen Ambitionen oder sind wir da nicht einfach noch in einem Kapitel der Vorgeschichte hängen geblieben? Aber der Reihe nach:
Die Römer sind weg, alles wird schlechter! Es lebe der retrospektive Kulturpessimismus …
Wir schreiben den Anfang des 5. Jahrhundert, der römische Adler hebt ab, segelt nach Süden und niemals kehrt er wieder. Gut möglich, dass man sich dessen in unseren Breiten nicht gleich ganz sicher war. Nur rückblickend sind solche Entwicklungen immer klar und unverrückbar. Tatsächlich verschwand ein Einfluss, der unseren Raum für ein paar Jahrhunderte geformt und geprägt hatte und wurde ersetzt durch – ja was eigentlich?
Auf jeden Fall furchtbar, dieser kulturelle „Verfall“ nach den Römern. Der Holzbau erlebt ein Revival, die Fußbodenheizung ist aus, die Töpferscheibe morscht vor sich hin und sch… geht man auch wieder hinter den Busch statt sich an wassergespülten Latrinen zu erfreuen. Faktisch durchaus korrekt. Die Veränderungen am Ausgang der Spätantike präsentieren sich für uns recht unersprießlich. Nicht dass unsere jetzige verwöhnte Sicht in diesem Zusammenhang relevant wäre. Kulturen werten und mit Begriffen wie „primitiv“ um sich zu werfen ist sehr gestrig und zeugt auch nicht gerade von einer über den Dingen stehenden Objektivität. Anders ist das Leben nach den Römern aber auf jeden Fall. Natürlich, auch die Ansprüche und Fokussierungen sind andere, die gesellschaftlichen Strukturen vollkommen anders aufgebaut, die religiösen Vorstellungen spiegeln andere Muster wieder. Und genau hier werden wir das nächste Mal einhaken. Mit den wenigen – sterblichen – Überresten, die wir aus der „finsteren“ Zeit zwischen römischer Öllampe und mittelalterlichem Tierfettlämpchen kennen.