Zwei glatt, zwei verkehrt …

Autorin: Christine Ranseder

Die Überschrift lässt es erahnen: Wir haben eine Stricknadel gefunden! Sie ist eine kleine Seltenheit, denn aus archäologischen Ausgrabungen sind bisher nur wenige Stricknadeln bekannt geworden.

Das am Frankhplatz, Wien 9, ans Tageslicht gekommene Exemplar gehörte einst zu einem Nadelspiel aus vier oder fünf Stricknadeln. Dank einer Spitze an beiden Enden jeder Nadel ist es mit ihm möglich, in Runden zu stricken − also Socken, Strümpfe, Handschuhe, Kappen etc. ohne Naht herzustellen.

Unser Fund ist nur 17,5 cm lang und misst im Durchmesser 2 mm. Das heißt, die Stricknadel ist etwas kürzer als heute verwendete, die − zu fünft als Set verkauft − 20 cm lang sind. Die geringe Nadelstärke weist darauf hin, dass sehr feines Garn verstrickt wurde. Als geübte Strickerin kann ich Ihnen versichern, dass es kein Honigschlecken ist, Handschuhe oder Strümpfe mit derartig dünnen Nadeln zu stricken, womöglich auch noch mit Muster oder eingestrickten Perlen.

Datieren lassen sich im archäologischen Kontext gefundene Stricknadeln in erster Linie durch das sie begleitende Fundmaterial, in diesem Fall Keramik aus der zweiten Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts. Die Technik des Handstrickens ist jedoch weitaus älter. Wann und wo genau sie „erfunden“ wurde, hat sich allerdings bis heute nicht eindeutig klären lassen. Sicher ist, dass sich die Quellenlage ab dem 13. Jahrhundert stetig verbessert − nicht zuletzt durch archäologische Funde.

Zum Vergnügen strickten früher wohl nur wenige Menschen. Im Privaten galt einerseits, die Mitglieder eines Haushaltes mit wärmender Kleidung zu versorgen. Andererseits war die Herstellung von Strickwaren ein Wirtschaftszweig und zumindest gewerblich eine Männerdomäne. Die älteste Zunftordnung für Wiener Handstricker datiert in das Jahr 1609, Ende des 17. Jahrhunderts bestanden jedoch nur 10 Werkstätten. 1 Möglicherweise spielte bereits zu dieser Zeit und nicht erst im 19. Jahrhundert die Auslagerung einfacherer Arbeiten an (weibliche) Hilfskräfte innerhalb des Betriebs bzw. Heimarbeit eine beträchtliche Rolle.
Handstricken erfordert wenig Kapital, Stricknadeln und Garn nehmen kaum Platz ein und gearbeitet werden kann auch zwischendurch und nebenbei − ja sogar im Gehen. Es verwundert also wenig, dass es mit steigendem Bedarf und fortschreitender Industrialisierung zunehmend als Frauenarbeit betrachtet wurde. Stimmungsvolle bürgerliche Interieurs mit strickenden oder nähenden Frauen sollten nicht über die Ausbeutung der Arbeitskraft weniger privilegierter Frauen und Randgruppen, wie z. B. der Insassen von Arbeits- und Waisenhäusern, in der Konsumgüterproduktion hinwegtäuschen.

Zu jung für unsere Stricknadel: Idylle, wie sie sich der Bürger vorstellte. Interieur mit strickender Dame, Skizze von Josef Eduard Teltscher (1801−1837), um 1830. (© Wien Museum)

Sozialgeschichte lässt sich leider mit einer einzigen Stricknadel nicht schreiben. Dennoch wüsste ich nur zu gerne, wem der Fund einst gehörte. War es eine Frau, die das Haushaltseinkommen mit Heimarbeit aufbesserte? Ein Mann, vielleicht ein Soldat, der sich im nahe gelegenen Großarmenhaus Socken strickte? Wer weiß …

  1. Irena Turnau, History of Knitting before Mass Production, Warszawa 1991, S. 34 f. , die maschinelle Erzeugung von Seidenstrümpfen ist in Wien ab 1707 belegt, siehe S. 73 f.