Zwei Grabungen mit historischer Tiefe kompakt vorgelegt

Autorin: Christine Ranseder

So könnte man das soeben erschienene Buch „Beim Rochusmarkt. Vom Langhaus zum Postamt in 7000 Jahren“ beschreiben. Der 15. Band der beliebten Reihe „Wien Archäologisch“ lädt Sie zu einem Streifzug durch die abwechslungsreiche Geschichte eines heute dicht verbauten Stadtteils im 3. Wiener Gemeindebezirk ein. Was auf zwei stattlichen Flächen in der Rasumofsky– und Kundmanngasse zu Tage kam, hat uns zeitweise überrascht, entzückt und schlussendlich mit maßgeblichen neuen Erkenntnissen bereichert. Letztere wollen wir auf 160 Seiten mit Ihnen teilen. Hier ein kleiner Vorgeschmack …

Blick über die Grabungen in der Rasumofskygasse 29 (links) und Kundmanngasse (rechts). (Fotos: Stadtarchäologie Wien)

In den Jahren von 2014 bis 2017 erwiesen sich zwei dicht nebeneinanderliegende Großbaustellen − die eine zur Errichtung der neuen Zentrale der Post AG, die andere bedingt durch den Umbau der Bürogebäude des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger − als Glücksfall. Nur selten können Wiener Archäolog:innen über mehrere Jahre hinweg ein rund 5000 m2 großes Areal untersuchen und dabei die Siedlungsgeschichte bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen.

Leben im Langhaus

Das erste Kapitel des chronologisch aufgebauten Buches ist dem überraschendsten Nachweis einer Siedlungstätigkeit im Gebiet des heutigen Rochusmarkts gewidmet: Eines frühneolithischen Langhauses, welches durch Pfostengruben und Wandgräbchen fassbar war. Diese aus fünf parallelen Reihen massiver Holzpfosten und Wänden aus lehmverkleideten Rutenflechtwerk errichteten, schmalen Häuser konnten eine Länge von über 30 m erreichen. Sie boten einer Großfamilie von bis zu 10 Personen Platz. Hinzu kamen Wirtschafts- und Vorratsgruben. Die während der Ausgrabung geborgene Keramik lässt sich der Linearbandkeramik um ca. 5100 v. Chr. zuordnen.

Links: Der freigelegte Grundriss des frühneolithischen Hauses in der Rasumofskygasse 29. Rechts: Bruchstücke frühneolithischer Keramikgefäße mit charakteristischen Handhaben bzw. Verzierungen. (Fotos: Stadtarchäologie Wien)

Kelten und Römer

Für die Spätlatènezeit (ca. 150−15 v. Chr.) ist eine Häufung von Fundstellen im heutigen 3. Wiener Gemeindebezirk zu vermerken. Über das während der Ausgrabungen beim Rochusmarkt untersuchte Gebiet erstreckte sich eine ausgedehnte Siedlung. Zu ihren eindrucksvollsten Hinterlassenschaften im Boden zählen sieben, bis zu 10,80 m tiefe Brunnen. Fünf Schächte, drei Grubenhäuser und zahlreiche Gruben ergänzen das Bild. Das Fundmaterial erwies sich als überaus reichhaltig und belegt erstmals das Nebeneinander von einheimischer und römischer Kultur − lange vor der Errichtung des Legionslagers! Dass es sich um eine bedeutende „keltische“ Siedlung handelte, belegen nicht nur boische Münzen, sondern auch Hinweise auf eine vor Ort erfolgte Herstellung von Münzrohlingen. Rückschlüsse auf das in der Siedlung ausgeübte Handwerk geben unbearbeitetes fossiles Harz und Abfall der Herstellung von Schmuckperlen sowie Überreste von Metall verarbeitenden Werkstätten. Neben spätlatènezeitlicher Keramik fand sich ein überraschend hoher Anteil an römischem Tafelgeschirr mit schwarzem Überzug, sog. Campana, die aus Arezzo importiert worden war. Backplatten mit Deckel, Fragmente von Reibschüsseln und Transportbehälter für Produkte des Mittelmeerraumes weisen auf kulinarische Genüsse nach römischer Art hin.

Links: Ein verfüllter spätlatènezeitlicher Brunnen in der Rasumofskygasse 29. Rechts oben: Keltisches Vorrats- und Trinkgeschirr. Mitte: Tüpfelplatte für die Herstellung von Münzrohlingen. Rechts unten: Abfall der Herstellung von Schmuckperlen aus fossilem Harz („Bernstein“). (Fotos: Stadtarchäologie Wien)
Oben links: Römischer Teller mit Stempeldekor. Oben rechts: Römische Backplatte mit Deckel. Unten links: Beinerner Schreibgriffel (stilus) mit separat gefertigtem Kopf. Unten rechts: Mit Kreisaugen und Zickzacklinien dekoriertes Messer aus Eisen (sica). (Fotos: Stadtarchäologie Wien)
Neuanfang im Mittelalter

Nach der Aufgabe der spätlatènezeitlichen Siedlung etwa um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. wurde es still im Gebiet des heutigen Rochusmarkts. Erst für das Mittelalter waren wieder Spuren menschlicher Aktivitäten auf dem Areal nachzuweisen, das nun zur Vorstadt St. Niklas vor dem Stubentor gehörte. Eingebettet in Gärten und Äcker standen hier nicht nur Wohnhäuser, sondern auch eine dem Hl. Nikolaus geweihte Kapelle sowie das erste Zisterzienserinnenkloster Österreichs. Aus den Schriftquellen ist bekannt, dass die Siedlung in der Mitte der 1440er Jahre mit einem Graben befestigt wurde. Er konnte nun erstmals archäologisch nachgewiesen werden. Die unruhigen Zeiten schlugen sich aber auch in der Errichtung eines Erdstalls nieder. Nach der Belagerung durch die Osmanen 1529 war die Vorstadt St. Niklas verwüstet. Die „öden Flecken“ am Wall des Vorstadtgrabens wurden um 1550 zur Aufsiedlung parzelliert.

Links: Blick in den größtenteils freigelegten Sohlgraben nach Südwesten. Links oben: Die Öffnungen der Erdstallgruben und der Kammer des Einstiegsschachts im Vordergrund. Links unten: Aus dem Erdstall geborgener großer Topf mit eingeritztem Kreuz sowie drei Miniaturgefäße. (Fotos: Stadtarchäologie Wien)
Von barocker Wohnkultur und Gartenkunst …

Angehörige der Oberschicht kauften nach der Zweiten Belagerung durch die Osmanen die kleinen Grundstücke auf und legten sie zusammen, um Palais mit prächtigen Gärten zu errichten. In der Rasumofskygasse entstand ein Palais, das sich eine Zeit lang im Besitz des, mit der Familie Mozart befreundeten, berühmten Arztes Dr. Franz Anton Mesmer befand. Er sorgte mit seiner Heilmethode des „animalischen Magnetismus“, in dessen Rahmen auch der Garten eine Rolle gespielt haben dürfte, für Kontroversen. Bei der Ausgrabung kam ein Teil des Bassins und Mauern der Orangerie zu Tage. Östlich des Gartens, in der Kundmanngasse, konnten die Mauern kleinerer Häuser aufgedeckt werden.

Oben: Töpfe, Krüge und eine Pfanne – Küchengeschirr aus der Rasumofskygasse 29. Unten: Trinkgläser aus einer Abfallgrube in der Erdbergstraße 12–14. (Fotos: Stadtarchäologie Wien)
… zum Standort für Industrie und Handwerk

Im 19. Jahrhundert wandelte sich die Nutzung von Palais und Garten. Gewerbebetriebe und Mieter zogen ein. Bei einem Brand im April 1827 kam auch die Druckerei des Lithografen Josef Trentsensky zu Schaden. In den 30er Jahren wurde die ehemalige Orangerie aufgestockt, um eine Maler- und Lackierwerkstätte unterzubringen. Nach und nach gesellten sich Neubauten hinzu, um die Liegenschaft den Bedürfnissen zahlreicher unterschiedlicher Gewerbe anzupassen. Auch diese baulichen Veränderungen hinterließen Spuren im Boden. 1920 entstand hier schließlich eine neue Telefonzentrale. Ihre Fassade im Stil des Art Déco wurde in die ab 2014 neu errichtete Unternehmenszentrale der Österreichischen Post AG integriert.

Fazit

In dem Buch „Beim Rochusmarkt“ werden die Ergebnisse der Grabungen in Rasumofsky- und Kundmanngasse mit einer ausführlichen Recherche schriftlicher und bildlicher Quellen vernetzt. Abgerundet wird die Geschichte des Gebietes durch die Einbeziehung von Altgrabungen und besonderer Stücke aus ihrem bisher unpublizierten Fundmaterial. Leicht lesbarer und üppig mit Abbildungen versehen, präsentiert die kürzlich erschienene Publikation viel Stadtgeschichte in einem handlichen Format.

Neugierig geworden?

Kristina Adler-Wölfl/Martin Mosser/Heike Krause/Martin Penz/Ingeborg Gaisbauer/Christine Ranseder/Kinga Tarcsay/Constance Litschauer/Sigrid Czeika/Otto Cichocki/Peter Steier
Beim Rochusmarkt. Vom Langhaus zum Postamt in 7000 Jahren
Wien Archäologisch 15 (Wien 2023)

22 x 14 cm. Broschur.
160 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
EUR 21,90.
ISBN 978-3-85161-296-7