Nicht militärisch, nicht zivil – die römischen „canabae legionis“

Autorin: Ursula Eisenmenger

Damit ist die Lagervorstadt gemeint, die sich um das Legionslager schmiegt. Wer dort lebte und arbeitete, stand unter der Befehlsgewalt des Lagerkommandanten, des praefectus castrorum.
Es sind die castra, die großen Standlager, die oft mit einer solchen Ummantelung versehen waren. Ab der römischen Kaiserzeit erbaut, kurbelten sie die Wirtschaft an: Wo römisches Militär stationiert war, da tauchten auch die Händler auf, deren kleine Verkaufsbuden canaba, -ae genannt wurden. Mit der Zeit mutierten sie zur militärisch verwalteten Lagervorstadt canabae legionis. Die sog. Leugenzone  intra leugam zog die Grenze. Es bedurfte der Zustimmung des Präfekten, wer sich dort niederlassen wollte. Dass allerdings aus dem Lateinischen canabae eine deutsche „Kneipe“ entstanden sein soll, ist nur ein Gerücht!
Eine echte Zivilsiedlung begründet schließlich eine Siedlungsdualität, wie sie schon in Carnuntum beobachtet wurde. In Vindobona, im 3. Wiener Gemeindebezirk am Rennweg gelegen, ist das jedoch eine andere Geschichte.

Das Legionslager und die vermutliche Ausdehnung von Lagervorstadt, canabae legionis, und Zivilsiedlung. (Plan: Stadtarchaeologie Wien)

Lebensort – Totenstadt

Anders als in Carnuntum entwickelte sich nach einer Nachdenkpause von einigen Jahrhunderten auf dem römerzeitlichen Lager- und Siedlungsgebiet eine Großstadt, deren damalige Bewohner sich auf unterschiedliche Weise an den Überresten der alten Römer bedienten, sei es die Nachnutzung der Lagermauern, mit gleicher Bestimmung für Schutz und Sicherheit, sei es am Material an sich, indem die Steine in weitere Mauern verbaut wurden. So soll es nicht weiter verwunderlich sein, dass die Vindobonensische canabae aus den Augen der Historiker verschwunden ist und wir nur raten können, wie groß einst das Gebiet war. Es ist anzunehmen, dass es Tempel oder auch ein Theater gegeben haben mag, wie es von anderen canabae bekannt ist.

Hinzu kommt der Umstand, dass in spätrömischer Zeit hier Gräberfelder angelegt wurden, was im 19. Jahrhundert zur Miss-Interpretation führte, es handle sich beim Bereich um das Militärlager rein um eine „Totenstadt“. Grabungen im ausgehenden 20. Jahrhundert auf der Freyung zeigen, dass es die ersten Holzbauten der Siedler ab der spätflavischen Zeit (um 85/90 n.Chr.) gab. Die Besiedlung erfolgte nach einem bekannten Muster und nach dem XII-Tafel-Gesetz, wonach es keine Bestattung auf bewohntem Territorium geben durfte: Die Siedlung fing klein an, die Verstorbenen wurden rundherum begraben. Es wuchs das Gebiet, die Begräbniszonen wurden eingeebnet, darauf wurde für die Lebenden gebaut. Zuletzt verkleinerte sich das bewohnte Gebiet (aufgrund Seuchen, Übergriffe durch Barbaren usw.), die Verstorbenen wurden wieder rundherum begraben.

Die Ausgrabung am Michaelerplatz. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Endlich „Platz“!

Populär und mitten drin – der Michaelerplatz: Die Platzgestaltung durch den Architekten Hans Hollein lässt Wien-Besucher in die Vergangenheit blicken – vom 19. Jahrhundert in die Frühneuzeit, von da ins Mittelalter und die Römerzeit. Hier fand sich die seltene Möglichkeit, dass bei Ausgrabungen in den 1990er Jahren römisches Lagervorstadtleben umfassend dokumentiert werden konnte. Ein Glücksfall, denn es wurde hier eine Straßenkreuzung zweier wichtiger Verbindungswege nachgewiesen.

Hartnäckig hält sich hingegen der Mythos eines „Bordell-Bezirkes“. Sicher gab es auch das: Wirtshäuser mit Wein, Weib und Gesang. Die Befunde vom Michaelerplatz erzählen jedoch um einiges mehr, nämlich von Wohnhäusern und prosperierenden Werkstätten, Höfen,  Brunnen und Latrinen. Nach ersten Holzkonstruktionen wurde dann in Stein gebaut; zur Straße hin waren die Verkaufsläden mit Vordächern geschützt. Die alten Wiener arbeiteten dort, wo sie auch lebten. Und das sind sie: Handwerker und Händler; darüber hinaus die Familien der Soldaten, die zwar lange nicht offiziell heiraten durften, aber dennoch Frauen und Kinder hatten.

Die Reste eines Ofens mit langem Schürkanal, seine Rekonstruktion und Schlacke. (Fotos/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien)

Von Feuerstellen liegen kiloweise Schlacken vor, wie sie bei einer Metallverarbeitung übrig bleiben, wobei ebenfalls aufgedeckte Halbfabrikate solche Betriebe belegen. Diese Essen verdeutlichen die Wichtigkeit der Straßenkreuzung, konnte dort Kaputtgegangenes wieder repariert werden. Ebenso interessant sind die Fragmente von Bullen, Votivgaben und Gewichten aus Bundmetall, Werkzeugteile aus Eisen sowie Schalen und Fibeln aus Bronze.

Schön funktionell – Haarnadeln, Nähnadeln und ein Seilerhörnchen. (Foto: Stadtarchäologie Wien/Sigrid Czeika)

Beinobjekte wurden aus Knochen oder Geweihteilen hergestellt; an manchen Knochenstücken sind Arbeitsspuren, wie Riefen durch Sägen und Messer, sichtbar. Aus Langknochen wurden z. B. Näh- und Haarnadeln gefertigt, aus Hornteilen Seilerhörnchen zum Festmachen von Traglasten mittels Seilen. Römisches Recycling spiegelt sich in Bodenstücken von Keramiktöpfen wider, die nachträglich durchlocht und so zu Spinnwirteln umgearbeitet wurden. Einige Rohglasbrocken verlocken schließlich zur Annahme, dass in einer der Feuerstellen auch Glaswaren produziert wurden.

Ambiente

Behaglichkeit und Kolorit waren immer schon ein menschliches Anliegen. Zumeist wurde der Hauptraum wohlig ausgestattet mit Fensterglas, Fußbodenheizungen und Wandmalereien.

Heiß befüllt: Hypokaust-Anlage in situ und Rekonstruktion. (Foto/Zeichnung: Stadtarchäologie Wien)

Tubuli, eckige Hohlziegel, leiteten die heiße Luft von den Heizkanälen zu den Hypokausten durch die Wände. Wandmalerei-Fragmente zeigen außer Bildnissen auch, wie der Raum architektonisch ausgesehen hat: Eine Wölbung lässt auf ein Tonnengewölbe schließen. Im Unterputz für die Freskomalereien hat der Maler Ritzlinien vorgezeichnet, sodass sein Muster, braune und blaue Girlanden, schöne Rechtecke bildeten. Andere Fragmente zeigen stilisierte gepunktete Blüten u. a. aus Ägyptisch-Blau, ein teures Pigment, ein Indikator für die finanziell gut gestellte Lage des Hausbesitzers. Und neben all den Blüten und Girlanden streifte ein Panther über die Wände.

Wandmalerei: Fell einer Großkatze. (Foto: N. Willburger, aus: Fundort Wien 7, 2004, 188–197, Abb. 9)
Michaelerplatz, eine Mauer von Haus C mit dem Rest einer Wandmalerei und ein Detail. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Terra Sigillata, das Tafelgeschirr der Römer, und andere Feinwaren sind Zeugen langer Handelswege und -beziehungen zu Gallien, Germanien und Rätien. Allerdings vor allem für jene Bewohner, die es sich leisten konnten. Andere griffen auf Imitate zurück: feine, zarte Becher und Schälchen mit Appliken- und Barbotinedekor, die hier in Wien hergestellt worden sein sollen. Fehlbrände von gröberer Gebrauchskeramik, aber auch Utensilien für Stempel-Dekore sind eindeutige Hinweise auf eine Töpferei im Umfeld des Michaelerplatzes, zumal zu dieser Zeit noch der Ottakringer Bach fließend zu sehen war.

Was verbirgt sich dahinter?

Tönerne Maske. Ein Altar, der nur 10 x 11 x 7,6 cm misst. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Rätselhaft ist eine Maske aus Keramik: Masken gehören zum Theaterleben bzw. zum Grabkult. Waren die verzerrten Gesichtszüge doch als Souvenir gegen den „Bösen Blick“ gedacht?
Ein Altärchen aus Stein ist von einem Hauskult übrig geblieben. Oder wurde auf ihm geopfert, wenn man gut angekommen war? Sein Fundplatz in der Nähe der Straßenkreuzung könnte ein Hinweis darauf sein. Langlebig und resistent erwies sich eine Raststätte mit Werkstattbetrieb an besagter Straßenkreuzung, die noch lange Bestand hatte, als sich schon Großteile der Bevölkerung hinter die schützenden Mauern des Lagers zurückgezogen haben. Denn gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurde es immer ungemütlicher: einfallende Barbaren und marodierende Soldaten setzten in den canabae wie auch in der Zivilsiedlung dem zivilisatorischen Leben ein Ende.

Wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, ist der Fundplatz Michaelerplatz noch keine gesamte canabae: Schlägt man den Stadtplan Wien/Wien Kulturgut auf, ziehen sich, kleinen Nadelstichen gleich, die weiteren Fundplätze über Teile des ersten und neunten Bezirks. Umgrenzt wahrscheinlich von der Währinger Straße über das Schottentor, weiter Richtung Rathauspark  zum Heldenplatz; auf der anderen Seite von der Dominikaner-Bastei zur Stubenbastei, von der Walfischgasse zur Himmelpforte, können wir heute nur ungefähr erahnen, wie umfangreich die Lagervorstadt gewesen sein muss.