Gottes Auge sieht alles, wir aber nicht

Autorin: Heike Krause

Mauern können leider nicht sprechen. Sie geben uns Rätsel auf, die nicht immer einfach zu lösen sind. Die Mauer unter dem Matzleinsdorfer Platz hat sich als ein derartiger Fall entpuppt. Von den Ermittlungen zur Klärung ihrer Funktion und ihres Alters soll hier die Rede sein.

Wir berichteten über die Entdeckung der Mauer schon am 26. September. Sie konnte bald darauf bis zu einer Tiefe von ca. vier Metern freigelegt werden. Darüber hinaus traten zwei weitere Mauern zutage, die es nun ermöglichen, einen Kellerraum zu rekonstruieren. Zwei der Kellermauern waren aus einem sogenannten Netzmauerwerk, wobei große Steine mit kleineren Steinen und Ziegeln ausgezwickelt sind.

Das fertig freigelegte Mauerstück (oben). Der zweite Mauerrest in der Südecke der Baugrube (mitte). Eine Ziegelmauer unterteilte den Keller (unten). (alle Fotos: Stadtarchäologie Wien

Eine weitere Mauer bestand aus Ziegeln. Diese liefern uns einen ungefähren Zeitrahmen für die Errichtung. Typische „Logos“ der Ziegeleien in Form von Initialen geben dafür wichtige Hinweise. Die Ziegel dürften demnach zwischen 1821 und 1905 produziert worden sein und stammten aus mindestens fünf Ziegeleien. Das Ausmaß des Gebäudes kann aufgrund des kleinen dokumentierten Ausschnitts nicht ermittelt werden. Hier können nur Pläne, Ansichten oder Fotos darüber Aufschluss geben. Und die müssen erst einmal gefunden werden! Uns gelang anhand der Baumaterialien zwar rasch eine ungefähre Altersbestimmung, doch wie sah das Gebäude aus, wem gehörte es und wozu diente es? Das unmittelbar vor dem Linienwall der Matzleinsdorfer Linie gelegene Areal erweist sich auf den ersten Blick als Grauzone. Bis zum Bau der Bahnlinie war die Gegend agrarisch geprägt. Der Wien-Gloggnitzer-Bahnhof, als Vorgängerbau des Südbahnhofs , wurde 1841 errichtet. Die Bahntrasse begleitete quasi diese Strecke des Linienwalls. Unter staatlicher Leitung wurde die Bahnstrecke Wien–Triest gebaut. Der erste Schnellzug von der nun Südbahnhof genannten Station in Richtung Triest startete am 1. August 1857. Das Gebiet zwischen Linienwall und Südbahn wurde in der Folge für verschiedene Zwecke genutzt. Wir sehen an der Stelle der freigelegten Mauern in Plänen aus der Zeit zwischen 1872 und 1887 nicht näher bezeichnete Gebäude, die jeweils in den Dimensionen unterschiedlich groß dargestellt sind. Im Kataster der Reichs-Haupt- und Residenzstadt Wien von 1885 finden sich drei Eigentümer vor der Matzleinsdorfer Linie, allerdings ohne genaue Adresse: der Gastwirt und Großfuhrmann Johann Dobner, die Kaufleute Ludwig und Bernhard Mandl, deren Gebäude erst 1875 errichtet wurde, und die Firma Wetzlar, Abeles & Eisler. Diese führten ein Fourage-Depot für die Armee, das 1879 entstand. Da die Karte von 1872 bereits Gebäude an der Stelle unserer Mauern zeigt, scheiden die beiden letzten als Eigentümer jüngerer Bauten aus. Nimmt man nun Johann Varrones  Ansicht der Matzleinsdorfer Linie zu Hilfe, so sieht man zwischen der Bahntrasse und dem Linienwall zahlreiche Gebäude.

Johann Varrone, Matzleinsdorfer Gürtel vom kleinen Weichenturm der Südbahn im Jahre 1889, 1897 (Ausschnitt). Rechts das Fourage-Depot. (©Wien Museum)

Doch zu welchem gehörte der freigelegte Keller? Die Überlagerung des Stadtplanes von 1887 mit den dokumentierten Mauern ist nicht sehr genau. Wir sehen ein L-förmiges Gebäude, zu dem die Mauern gehört haben dürften.

Die freigelegten Mauern in Überlagerung mit dem Stadtplan von 1887 (Plan: Stadtarchäologie Wien/Martin Mosser, Plangrundlage Stadtplan Lechner 1887)

Zum Glück gibt es im Wien Museum ein Foto aus der Zeit um 1900, das uns weiterhilft.

Das Gasthaus „Zum Auge Gottes“ an der Matzleinsdorfer Linie mit der Haltestelle der Wiener Lokalbahn, um 1900. (©Wien Museum)

Es zeigt das Gasthaus „Zum Auge Gottes“ an der Matzleinsdorfer Linie, vor dem seinerzeit die Endstation der Wiener Lokalbahn lag. Der Linienwall war schon geschleift. Das flache Gebäude im Hintergrund trägt am linken Bildrand eine Namensaufschrift: Theodor Melion. Er übernahm um 1900 das Gasthaus, das zuvor Johann Dobner samt einem Fuhrbetrieb unterhielt. Vergleicht man nun das Foto mit der Ansicht von Varrone, so findet man Übereinstimmungen mit Gebäuden auf der linken Seite. Voilà! Lange standen die Bauten danach nicht mehr. Sie wurden bis auf das Stationshäuschen demoliert und sind deshalb im Stadtplan von 1904 nicht mehr eingezeichnet. Was die Mauern des Gasthauses „Zum Auge Gottes“ alles erlebt haben, bleibt allerdings für uns im Verborgenen.