Das mittelalterliche Wien 3: Es werde Licht! – oder auch nicht …

Autorin: Ingeborg Gaisbauer

Das Problem mit Stadtanfängen ist, dass sie sich leider nicht so biblisch gestalten. Gerade noch dunkle Jahrhunderte und dann – schnipp! – geht die Sonne im Zeitraffer auf und bringt uns mittelalterliches Wiener Morgengrauen. Unter uns gesagt: das rezente Wiener Morgengrauen hat wohl jeder Wiener schon mehrfach erlebt! Aber Spaß bei Seite. Die eigentliche Frage bleibt: Wann und wie begann Wiens Geschichte?

Der aktuelle Meinungskonsens

Gleich vorweg – die derzeitige Forschungsmeinung zieht das 9./10. Jahrhundert als Geburtsstunde nicht nur in Betracht sondern „vor“. Die Argumente sind interessant und sicherlich schwerwiegend. Was hätten wir da also alles:

1. Es gibt eine erste Nennung des Namens Wien, genauer gesagt „ad veniam“ aus dem Jahr 881 als ungefähre Lokalisierung einer Schlacht.

2. Die Patrozinienkunde – die Auswertung des Namens/Namensheiligen einer Kirche bezüglich des Alters der Gründung und der Motivation hinter derselben – postulierte immerhin zwei Kirchen (St. Ruprecht und St. Peter) als Salzburger Gründungen des 9. Jahrhunderts.

3. Es gibt Keramik des 9./10. Jahrhunderts aus der Nordost-Ecke des ehemaligen Legionslagers, sprich aus dem Bereich Ruprechtsplatz/Sterngasse. Weitere Fragmente des 10./11. Jahrhunderts kamen bei einer Grabung unter St. Stephan ans Tageslicht.

4. Bei selbiger Grabung konnten auch zwei bis drei Bestattungen mit einer ähnlichen Zeitstellung geborgen und C-14-datiert/-verifiziert werden. Auch wenn keine Überreste einer Kirche aus dieser Zeit gefunden werden konnten, gaben diese Gräber Anlaß eine erste Kirchhofssituation zu postulieren.

Daraus ergäbe sich folglich eine Siedlung mit mehr als einer Kirche, einem Namen und einer möglichen Ausdehnung vom Ruprechts- bis zum Stephansplatz (auch zwei getrennte Siedlungskerne werden hier für möglich gehalten). All das basiert auf einer Wiederbenutzung der römischen Grundlagen, vor allem der Lagerbefestigung. Von dieser Grundlage im 10. Jh. aus, geht es dann stürmisch weiter in Richtung babenbergisches/hochmittelalterliches Wien im 12. Jahrhundert.

So weit so gut. Gegenargumente?

Nun ja, das eine oder andere sollte man dazu schon anmerken.

ad 1. „veniam“ ist eine Ortsbezeichnung ungeklärter Wertigkeit. Niemand weiß, ob damit ein Fluß, ein Ruinenhaufen oder wirklich eine Siedlung irgendeiner Art gemeint ist. Sicher schließt dieser Name nicht an den Wienfluss in römischer Zeit an, denn der hieß vermutlich Akaunus. Wenn es sich also um eine Bezugnahme auf den heutigen Wienfluss handelt, ist der Name „venia“ an sich bereits eine Neuschöpfung. Und noch dazu eine, die sich nicht akkurat übersetzen läßt. Bis jetzt gibt es keine so wirklich verläßliche Ausdeutung dieses Wortes, zumal man ja nicht einmal genau weiß, in welcher Sprache man nach Erhellung suchen muss.

ad. 2. Die Namen von Kirchen sagen sicher einiges aus. Sie können uns Hinweise auf die Provenienz der Gründung geben, aber nicht viel über das Alter sagen. Sich z. B. auf das Bistum Salzburg zu berufen, war nach neuerer Historikermeinung zwischen dem 9. und 11. bzw. frühen 12. Jahrhundert immer wieder aus verschiedenen Gründen eine Option.

ad 3. Die Keramik vom Ruprechtsplatz und von St. Stephan ist eine Realität, es handelt sich aber nur um eine sehr überschaubare Anzahl von Fragmenten. Abgesehen davon fehlt für den Nachweis einer daran anschließenden weiteren Besiedlung die Keramik des 10./11. Jahrhunderts.

ad 4. Wie verhält es sich nun mit der Kirche und den Gräbern? Nun: keine Kirche ist und bleibt erst einmal keine Kirche, egal wie man es dreht und wendet. Die Gräber sind gewiss interessant, aber hier muss darauf hingewiesen werden, dass wir mit ca. derselben Datierung Gräber aus dem ehemaligen Legionslager haben, die weit von jeder Kirche offenbar einem älteren und nicht so ganz christlichen Bestattungsschema folgen. Beerdigungen bei und in römischen Ruinen kennen wir seit Jahrhunderten – eigentlich ab dem „Moment“, da die Römer abgezogen waren. Schlagen die Gräber unter St. Stephan nun in diese Kerbe (auch dort stand zumindest noch eine römische Grabbezirk-Mauer herum), oder handelt es sich dabei um etwas Neues und möglicherweise christliches? Bei der derzeitigen Faktenlage nicht seriös festzustellen …

Das am Hohen Markt gefundene Grab einer Frau, die hier fernab einer Kirche im 10./11. Jahrhundert bestattet wurde. (Foto: Stadtarchäologie Wien)

Und zuletzt: Die Nachnutzung römischer Baureste zu beweisen ist schwierig und verlangt nach neuen und sehr genau ausgeführten Ausgrabungen. Bis jetzt ist uns das in Wien noch kaum gelungen.

Fassen wir zusammen

Wir haben für das 9./10. Jahrhundert also einen Namen, den wir nicht übersetzen können und von dem wir nicht wissen, worauf er sich bezieht. Wir haben eine kleine Menge an Keramikfragmenten, können aber nicht einmal einen halben Topf rekonstruieren. Wir haben 3, 2, 1 oder keine Kirche(n) und es tanzen uns ein paar Skelette auf der Nase herum, die Weise nach der sie ihren „danse macabre“ aufführen ist uns aber nicht bekannt. Mustererkennung leicht gemacht sieht anders aus!

Ist im 10. Jahrhundert also für Wien die Sonne aufgegangen? Ich fürchte mehr als zweideutiges Zwielicht können wir hier nicht erspähen. Warten sie am besten mit mir zusammen auf die ersten stinkenden Talglampen des 11. Jahrhunderts!