Der Schuh des kleinen Reißteufels

Autorin: Christine Ranseder

Schuhe sind etwas sehr Persönliches. Sie verraten einiges über Vorlieben, Modebewusstsein und gesellschaftlichen Stand. Dafür muss man nicht gleich einen Schuhtick haben oder dem Schuhfetischismus frönen. Selbst auf die Beschaffenheit unseres Körpers lassen Schuhe schließen, denn sie nehmen die Form des Fußes an. Sowohl unsere Gangart als auch Fehlstellungen der Zehen − vom Hallux bis zur Hammerzehe − hinterlassen Spuren. Das können Beulen und Löcher im Oberleder, abgeriebene Stellen oder verzogene Nähte sein. Schuhe schützen unsere Füße. Sie können aber auch quälen − dennoch will die Fußbekleidung gepflegt und sorgsam behandelt werden. Und damit wären wir auch schon bei unserem Fund aus der Werdertorgasse 6.

Die Höhe des kleinen Stiefels beträgt 20,9 cm. (Fotos: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Unter den zahlreichen Lederfunden aus dem Bereich der Uferbefestigung eines Altarms der Donau sticht ein Stiefelchen hervor. Es handelt sich um einen Kinderschuh. Die Länge des erhaltenen Oberleders beträgt von der Schuhspitze bis zur Ferse 14,5 cm. Da sich Leder während der Lagerung im Boden verziehen kann und nach der Bergung schrumpft, gibt dieses Maß die ursprüngliche Schuhgröße nur annähernd wieder. Dennoch lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass das zum Schuh passende Kind unter zwei Jahre alt war. Es befand sich also in jener Lebensphase, in der der Mensch Gehen lernt bzw. beginnt, die Umwelt auf zwei Beinen zu erforschen.

Chic und dennoch zweckmäßig

Doch sehen wir uns den Schuh, dessen Sohle fehlt, genauer an. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass er nur aus einem Stück Leder besteht, das in Form geschnitten und seitlich mit einer Naht geschlossen wurde. Die Schuhspitze ist leicht ausgezipfelt. Der Abschluss des Schafts ist vorne etwas höher geschnitten als hinten. Seine Kante weist zahlreiche Einschnitte auf – möglicherweise, um sie etwas weicher zu machen, damit der Schuh angenehmer zu tragen war. Eine randbegleitende Verzierung aus ausgestanzten Dreiecken an der Schauseite des Schafts verleiht dem Stiefelchen das gewisse Etwas. Als Verschluss dienten ursprünglich mehrere Riemchen mit Knoten, jedoch hat sich nur eines davon erhalten. Zur Verstärkung der Ferse des wendegenähten Schuhs ist in seinem Inneren ein dreieckiges Lederstück als Verstärkung angenäht. Alle diese Merkmale weisen auf die Datierung spätes 14. bis erste Hälfte 15. Jahrhundert hin.

Gut sichtbar ist die einzige Naht, mithilfe derer das Stiefelchen in Form gebracht wurde. Die Verzierung befindet sich nur an der Außenseite des Schafts. (Fotos: Stadtarchäologie Wien/Christine Ranseder)

Es ist wirklich ein hübsches Schühchen. Die Eltern wollten eindeutig das Beste für ihr Kind. Sie entschieden sich für einen sorgfältig gearbeiteten hohen Schuh aus weichem Leder, der ihrem Sprössling dennoch Halt verlieh. Aufgewertet wurde das Modell durch eine attraktive Verzierung, wohl mehr zur Freude der Erwachsenen.
Das Kind war vielleicht weniger begeistert. Ob die Fußbekleidung modisch und prestigeträchtig war, wird es ohnedies nicht interessiert haben. Man hatte ihm unbequeme Fremdkörper über die Füße gestülpt. Bääää! Tatsache ist, dass unser Fund recht ramponiert aus dem Boden kam: Ein Großteil des Verschlusses fehlt und ein tiefer Riss verläuft an der Außenseite des Schuhs. Wollte das Kind die Schuhe loswerden, sie selbst ausziehen und zog dabei zu kräftig an den Verschlussriemchen? Oder war es noch unsicher auf den Beinen, doch enthusiastisch ob der neuen Fortbewegungsart flott unterwegs, irgendwo hängen geblieben? Wie auch immer, die Schäden waren irreparabel, die Entsorgung des Schuhs im Graben nicht zu vermeiden. Des einen Verlust, des anderen Gewinn!